Gleich- und Wechselstrom - wenn Strom nicht gleich Strom ist


Bereits viele Jahre bevor die Elektrifizierung der Fernbahn mit 15 kV, 16 2/3 Hz Anfang der 1980er Jahre den Berliner Raum erreichte, beschäftigte sich die Deutsche Reichsbahn mit den zu erwartenden Problemen der gegenseitigen Beeinflussung der Stromsysteme der Berliner S-Bahn als Gleichstrombahn und der Fernbahn als Einphasenwechselstrombahn. Die beiden Stromsysteme vertragen sich wegen der unterschiedlichen Erdungsgrundsätze nicht, die Fernbahn wird durch die Rückleitungsströme (vormals: Triebrückströme) der S-Bahn beeinflusst.

Schon 1964 gab es Voruntersuchungen der Versuchs- und Entwicklungsstelle für die Maschinenwirtschaft der Deutschen Reichsbahn in Halle (VES-M). Es wurden Versuche und Messungen durchgeführt in denen ermittelt wurde, welche Störungen von den mit Gleichstrom durchflossenen Bauteilen der Wechselstrom-Zugförderung hervorgerufen werden. Im Unterwerkbereich Großkorbetha wurde ein Komplexversuch durchgeführt, wobei die zu erwartenden Verhältnisse des Berliner Raumes annähernd nachgebildet wurden.

Bild: V75 in Leipzig Hbf (Symbolbild)

107 001 (ex V75 001) in Leipzig Hbf als Rangierlok. Der Gleichstromgenerator einer solchen Lok diente bei den Messungen als Stromerzeuger (Symbolbild, 14. März 1972).

Bei den Untersuchungen wurde durch Schaltungen im Unterwerk und bis zur Versuchslok sowie durch Gleissperrungen sichergestellt, daß außer der Versuchslok keine weitere Ellok von der Versuchseinspeisung betroffen wurde, um jede Verfälschung der Meßergebnisse im Unterwerk und eventuelle Beschädigungen an Betriebslokomotiven auszuschließen. Zur Nachahmung der Verhältnisse im S-Bahnbereich mußte dem reinen Wechselstrom in der Fahrleitung ein Gleichstrom in verschiedenen Größen überlagert werden. Zwischen einem Umspanner und der Erd-Sammelschiene wurde eine Gleichstromquelle eingeschaltet. Als solche genügte bei den Standversuchen auf dem Bf Großkorbetha ein Schweißgenerator, um Gleichströme bis zu 50 A über Unterwerkstrafo, Hinleitung, Triebfahrzeugausrüstung und Rückleitung zu treiben. Bei größeren Entfernungen war die Spannung des Schweißumformers nicht mehr ausreichend, so daß für den gleichen Strombereich (bei entsprechend höherer Spannung) der Gleichstromgenerator einer Diesellokomotive der Baureihe V 75 verwendet werden mußte.

Für die Fahrversuche auf der Strecke Großkorbetha—Markranstädt wurde das Gleis Großkorbetha—Markranstädt in die Versuchseinspeisung einbezogen und während der Messungen für den übrigen elektrischen Betrieb gesperrt. (...)

Die Ströme I1 und I2 (I1 = Primärstrom; I2 = Sekundärstrom - d.A.) des Unterwerksumspanners steigen mit zunehmendem Gleichstrom an, da der innere Widerstand des Lokomotivtransformators sich durch die Vormagnetisierung mit Gleichstrom verkleinert und somit eine höhere Stromaufnahme der Ellok ergibt. Bei IG=50 A (einem Gleichstrom von 50 A - d.A.) stieg I2, der Leerlaufstrom des Lokomotivtransformators, über 100 A an! Dieser hohe Strom gibt zu bedenken, da allein sechs leerlaufende Ellok schon eine Schalterauslösung im Unterwerk infolge Überlast bewirken könnten. Allerdings ist ein Gleichstrom von 50 A gleichzeitig auf mehreren Ellok kaum zu erwarten [1].

Die Erwärmungsmessungen ergaben, daß der durch das Triebfahrzeug fließende Gleichstrom eine wesentliche Erhöhung der Erwärmung mit sich bringt und daß ein über längere Zeit unter Spannung stehendes Triebfahrzeug ohne Last einen an die Grenztemperatur erwärmten Hauptumspanner erhält.

Bis zu einem Gleichstromanteil von 45 A kann das Triebfahrzeug der Baureihe E 11 ohne Einschränkungen eingesetzt werden, jedoch ist der hohe Leerlaufstrom der Lok beim elektrischen Gemeinschaftsbetrieb zu berücksichtigen [2].

Bei Wechselstrombahnen wird generell ein niedriger Erdungswiderstand angestrebt. Die Verbindung aller Fahrleitungsmaste einschließlich ihrer Fundamente sowie aller größeren leitfähigen Bauteile im Rissbereich der Oberleitung mit den Fahrschienen ergibt sehr geringe Erdungswiderstände unter Einbeziehung des Erdreiches in die Rückleitung. Bei Gleichstromsystemen dagegen führt der in das Erdreich übertretende Anteil des Fahrleitungsstromes (Streustrom) zu Korrosionsschäden von im Erdreich befindlichen metallischen Leitern wie Rohrleitungen und Kabelmänteln und muss daher weitgehend begrenzt werden. Deshalb müssen Gleisanlagen von Gleichstrombahnen gegen das Erdreich möglichst gut isoliert sein. Eine saubere Bettung, gute Entwässerung und die Verwendung von Holz- oder isolierten Betonschwellen ist hier nötig.

Im Februar 1985 floß kein Wasser mehr im Aufsichtsgebäude des Bahnhofs Karow. Als die Hochbaumeisterei, einen Frostschaden vermutend, das parallel zur Stromschiene verlaufende Rohr ausgrub, stellten die Mitarbeiter fest, daß die Streuströme regelrechte Löcher in das Rohr gefressen hatten.

Die galvanische Trennung aller bestehenden Verbindungen zwischen den S-Bahn- und den Fernbahngleisen war also unbedingt erforderlich. Für die Fahrstromversorgung der S-Bahn bedeutete der Verlust der Fernbahnschienen als parallelen Rückleiter einen erheblich vergrößerten Rückleitungswiderstand und damit höhere Berührungsspannungen an den Enden langer Speisebezirke gegenüber der Wassererde, höhere Verluste durch Spannungsabfall und ein höheres Risiko für Streustromkorrosion. Vergrößerte Schleifenwiderstände Unterwerk - Fahrzeug - Unterwerk ergeben geringere Kurzschlussströme, so dass sich die Auslösesicherheit der Streckenschnellschalter im Kurzschlussfall unter Umständen stark verringern würde. Um die Auswirkungen praktisch zu ermitteln wurde 1964/65 eine Messstelle zwischen den Bahnhöfen Karlshorst und Wuhlheide in Höhe des Stellwerks Og (Ostendgestell) aufgebaut. Dort wurden durch die ORGREB (Institut für Kraftwerke Vetschau) gemessen, ob die metallische Trennung zweier Gleisnetze auf einem gemeinsamen Bahnkörper möglich ist und welche Beeinflussungen sich daraus ergeben. Gemessen wurde im normalen Betrieb und bei Kurzschluss der Stromschienenanlage der S-Bahn. Im Ergebnis der Messungen mussten für die S-Bahn zusätzliche Gleichrichterwerke errichtet werden, da eine Verstärkung der Rückleitung durch zusätzliche Rückleiterkabel nur einen größeren Aufwand ohne merkliche Verbesserung der Leistungsfähigkeit ergeben hätte.

Auch in der Fahrleitungsanlage des Bahnhofs Hennigsdorf, wo sich in einem Bahnhof die Oberleitungen der Versuchsstrecke des VEB Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf und die Stromschiene der Berliner S-Bahn befinden, konnten Stromaufteilungen in Versuchsmessungen praktisch ermittelt werden [3].

Dazu kam noch die nicht völlig auszuschließende Möglichkeit der Beeinflussung der Zugsicherungsanlagen der S- und Fernbahn im Kurzschlussfall der Fernbahn. Die Gleisstromkreise der Gleisfreimeldung verwenden die normale Netzfrequenz von 50 Hz aus dem Landesnetz, die jedoch von der 3. Oberwelle der 16 2/3 Hz Netzfrequenz im Fernbahnstromnetz unter Umständen unzulässig beeinflusst worden wären. Da auch die Frequenz dieser Oberwelle aufgrund von zulässigen Toleranzen der Stromversorgung von 15 2/3 bis 17 1/3 Hz nicht stabil ist, musste eine unbeeinflusste Frequenzlücke für die Speisung der Gleisstromkreise gefunden werden. Als geeignetste Frequenz ermittelte man 41 2/3 Hz, schlußendlich legte man sich auf 42 Hz fest [4].

Während der Umbau der Gleisfreimeldeeinrichtungen nicht problematisch war, waren beim automatischen Streckenblock die Eingriffe bedeutender. Da die Energieversorgung des automatischen Streckenblocks auf 42 Hz umgestellt wurde, waren hier neue Stromversorgungsanlagen erforderlich. Zur Frequenzumformung von 50 Hz auf 42 Hz waren in jeder Stromversorgung zwei rotierende Umformer aufgestellt. Einer für das Betriebsnetz, der andere für das Ersatznetz. Die Umformer bestanden aus einem 380 V 50 Hz Drehstrommotor, der durch ein Getriebe mit einem 390 V 42 Hz Konstantspannungsgenerator gekoppelt wurde. Dieser Generator gab unter allen Belastungsfällen rund 11 kVA mit einer Spannungstoleranz von 410 bis 370 V und einer Frequenztoleranz von 39 bis 44 Hz ab.

Als Ergebnis aller Untersuchungen entstand im Februar 1965 die Richtlinie R 001 "Elektrische Zugförderungsanlagen Gemeinschaftsbetrieb Projektierungsgrundlagen" der Deutschen Reichsbahn, in der alle Forderungen des Gemeinschaftsbetriebes zusammengefasst wurden. Aus dieser Richtlinie entstand später die überarbeitete Richtlinie DR-M 24-01.00, die ab 1. Februar 1980 verbindlich wurde.

Je nach Art des Betriebes und der Behandlung der Rückleitungen beider Stromsysteme unterscheidet man drei Formen des elektrischen Gemeinschaftsbetriebes:

Die Form des elektrischen Verbundbetriebs gibt es seit dem 28. September 1983 in Birkenwerder. In Erkner wurde diese Betriebsart auch ab dem 30. September 1990 angewendet. Für den Bahnhof Karow mit seinen einfacheren Verhältnissen war der elektrische Wechselbetrieb geplant.


Autor:
Mathias Kohla

Quellen:
[1] Ergebnisse der Versuchsmessungen in dem Unterwerk Großkorbetha und mit einer elektrischen Lokomotive der Baureihe E 11 mit gleichstrombeaufschlagtem 16 2/3 Hz-Bahnstrom; Deutsche Eisenbahntechnik, Heft 9/1965
[2] ebenda
[3] Untersuchungen über Möglichkeiten des gemeinsamen Betriebes von Wechsel- und Gleichstrombahnen im Berliner Raum; Deutsche Eisenbahntechnik, Heft 9/1965
[4] Die Auswirkungen der Traktionsumstellung im Berliner Raum auf die Eisenbahnsicherungsanlagen; Deutsche Eisenbahntechnik, Heft 9/1965

letzte Änderung:
28. Januar 2012

Veröffentlichung:
3. Oktober 2011

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