Die unterirdische Ost-West-S-Bahn durch Kreuzberg


In den 1920er Jahren gab es erstmals Planungen für eine U-Bahnverbindung von Treptow nach Moabit. Die projektierte Linienführung verlief über den damaligen Fernbahnhof Görlitzer Bahnhof sowie über die U-Bahnhöfe Moritzplatz und Kochstraße in Richtung Moabit. Der Bau dieser Linie sollte mittelfristig erfolgen.
Im Zuge der gigantomanen Ausbaupläne für Hitlers "Welthauptstadt Germania" wurde 1937/38 das Projekt zugunsten einer überregionalen S-Bahnplanung aufgegeben.

Es war beabsichtigt, diese S-Bahnstrecke zwischen Anhalter und Görlitzer Bahnhof (analog zur damals im Bau befindlichen Nordsüd-S-Bahn) unterirdisch durch Kreuzberg zu führen. Als Baukosten wurden wegen des aufwändigen Tunnelbaus in der engen Oranienstraße "für den hoch- und tiefbautechnischen Teil" (Grabski, 1939) etwa 10 Millionen Reichsmark veranschlagt.

Gleisplan 1

Die Züge hätten, von der "Bankierzug"-Linie aus Zehlendorf kommend, am Anhalter Bahnhof auf diese neue Strecke abzweigen sollen. Der Berliner Südosten wäre dann mit dem Südwesten erstmals direkt per Schnellverkehr verbunden worden:

Die Zuggruppe K der Germania-Planungen sollte in Königs Wusterhausen beginnen und bis zum Plänterwald in der heutigen Führung der Linie S46 folgen. Noch vor dem Bahnhof Treptower Park war ein Kreuzungsbauwerk geplant, um u.a. die Zuggruppe K zum Görlitzer Bahnhof auszuführen. Hier sollte die S-Bahnstrecke in einen Tunnel geführt werden und unter der Skalitzer Straße - Moritzplatz (Umsteigebahnhof zur U-Bahn) - Lindenstraße zum S-Bhf. Anhalter Bahnhof geführt werden. Hier ist bereits ein Tunnel zur Aufnahme der Strecke ausgeführt worden. Die Züge wären weiter im Verlauf der Wannseebahn geführt worden.[1]

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Projekt der Ost-West-S-Bahn bis zum Jahre 1985 steter Bestandteil aller Flächennutzungspläne. Nur einzelne Bahnhofsstandorte und -namen wurden etwas modifiziert.
Die Tatsache, dass die Buslinie 129 im Jahre 2004 zur "Metrolinie" aufgewertet wurde und heute tagsüber in einem Fünfminutentakt verkehrt, zeigt die Bedeutsamkeit der Planung, da eine Metrobuslinie (derzeit M29) entlang der projektierten Strecke (Anhalter Straße, Kochstraße, Rudi-Dutschke-Straße, Oranienstraße und Wiener Straße) führt. Dennoch verschwand das S-Bahnprojekt aus den Flächennutzungsplänen. Eine Neuauflage dieser Konzeption ist deshalb - und auch aufgrund der desaströsen Finanzlage Berlins - sehr unwahrscheinlich.

Der S-Bahnhof Anhalter Bahnhof

Vergleicht man alle unterirdischen S-Bahnhöfe in Berlin miteinander, so fällt dem aufmerksamen Betrachter auf, dass der heute scheinbar unbedeutend wirkende Anhalter Bahnhof zwei Bahnsteige für den Richtungsbetrieb besitzt, während z.B. der wichtige Umsteigebahnhof Friedrichstraße nur mit einem Bahnsteig ausgestattet ist. Das Vorhandensein des zweiten Bahnsteigs ist dadurch bedingt, dass beim Bau des S-Bahnhof Anhalter Bahnhof im Jahre 1937 die Planungen für die S-Bahn zum Görlitzer Bahnhof enthalten waren. Daß nach den 1937 erlassenen Germania-Plänen ein weiterer Umbau für die Einbeziehung der Ost-West-S-Bahn notwendig wurde, obwohl der S-Bahnhof 1936 bereits im Rohbau fertiggestellt war, mutet kurios an.

Ausfädelung Gzb

Blick vom Bahnsteiggleis 4 zur vorbereiteten Ausfädelung in Richtung Görlitzer Bahnhof.
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1937, mitten in den Bauarbeiten, wurden die Pläne im Zuge der Umgestaltung Berlins zur Welthauptstadt Germania nochmals geändert. Jetzt wurde eine neue S-Bahnstrecke von der Görlitzer Bahn über den Görlitzer Bahnhof kommend mit in den Neubau einbezogen. Das Bahnsteiggleis 1 wurde in nordöstlicher Richtung angehoben und war für ankommende Züge vom Görlitzer Bahnhof in Richtung Süden vorgesehen - interessanterweise erhielt es erst 1986 seine Schienen. Am Gleis 2 halten alle Züge vom Potsdamer Platz kommend in Richtung Süden. Das Gleis 3 ist für die Züge in der Gegenrichtung bestimmt, ebenso das Gleis 4; doch (und nur) hier hätten auch die Züge in Richtung Görlitzer Bahnhof im Regelbetrieb gehalten. Östlich des Anhalter S-Bahnhof liegen noch zwei im Rohbau befindliche Überführungsbauwerke, die an zwei Tunnelstutzen kurz vor Beginn der Anhalter Straße enden.

BR481 Gleis 1

5. Juni 2006: als letzter Zug vor der Betriebspause wurde dieser Zug der BR 481 in das Bahnsteiggleis 1 eingelassen.
Regelzüge auf diesem Gleis sind etwas sehr Seltenes - wie immer jedoch hatte unser Fotograf seinen Fotoapparat dabei.

Ursprünglich war zwischen dem Anhalter Bahnhof und Potsdamer Platz eine eingleisige Kehranlage für die Züge aus Richtung Süden vorgesehen. Durch die schon beschriebenen Neuplanungen wurde diese jedoch überflüssig. Der aufmerksame S-Bahnfahrgast kann jedoch noch heute den vorgesehenen Platz bei der Ausfahrt in Richtung Potsdamer Platz bzw. bei der Einfahrt von Potsdamer Platz kommend sehen. Über diesem Abschnitt befindet sich ein Hängebunker im betriebsfähigen Zustand.

Der bereits bestehende U-Bahnhof Kochstraße (heute U6) sollte nach ersten Planungen in den 1920er Jahren lediglich ein Umsteigebahnhof für die zwei U-Bahn-Linien Moabit <> Treptow und Wedding <> Tempelhof werden.
Im Flächennutzungsplan 1985 war dieser Bahnhof sogar als Umsteigepunkt zwischen zwei S- und zwei U-Bahnlinien enthalten: von der Linie U6 aus hätte man dann nicht nur die geplante Linie U3 (vom Alexanderplatz via Kochstraße und Reichpietschufer zum Wittenbergplatz) erreichen können, sondern es wäre auch eine Wahl zwischen den S-Bahnlinien Potsdamer Platz <> Görlitzer Bahnhof und Anhalter Bahnhof <> Görlitzer Bahnhof möglich gewesen.
In Planung war ein unterirdisches "Gleisdreieck", dass aus den Bahnhöfen Kochstraße, Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof gebildet werden sollte (siehe nachfolgende Abbildung).

Gleisplan2

Der S-Bahnhof Lindenstraße (geplant 1938-1945)

Eine Idee, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgenommen wurde, betraf den S-Bahnhof Lindenstraße, der nur in den Germania-Planungen existierte. Dafür sollte aber die zwischen 1965 und 1985 projektierte Linie U3, die entlang der Kochstraße parallel neben der Ost-West-S-Bahn verlaufen sollte, an einem U-Bahnhof in der Lindenstraße halten, bevor sie in Richtung Alexanderplatz eingebogen wäre.

Der S-Bahnhof Moritzplatz (im Rohbau fertiggestellt am 6. April 1928)

Bereits in den Jahren 1926 - 1928 wurde beim Bau der GN-Linie (heute U8) von Neukölln nach Wedding unter dem U-Bahnhof Moritzplatz ein 40 Meter langer Rohbau für eine U-Bahnlinie zwischen Treptow und Moabit errichtet. Anhand der doppelten Stützen auf dem U8-Bahnsteig und der Breite des mittleren Verteilergeschosses kann man heute noch erkennen, von wo einmal die Zugänge zum zweiten Bahnsteig beginnen sollten.

Der Rohbau lag bis zum Zweiten Weltkrieg brach, wurde aber dann - wie viele andere unterirdische Bauvorleistungen auch - in den Jahren 1942/43 zu einem Luftschutzbunker umgebaut. Nach dem Krieg nutzten das THW und die US-Besatzungsmacht das Baufragment als Übungsstätte. Erst ab dem Jahre 1984 hat der "S-Bahnhof Moritzplatz" eine zivile Nutzung erfahren: Die BVG richtete dort ein Unterrwerk zur Stromversorgung der U-Bahn ein. Der Verein Berliner Unterwelten e.V. hat dafür gesorgt, dass der Tunnel seit 2005 für Führungen erstmals öffentlich zugänglich ist.

Moritzplatz 1

Moritzplatz 2

Moritzplatz 3

Moritzplatz 4

Moritzplatz 5

Moritzplatz 6

Rohbau unter dem Moritzplatz.
Vielen Dank an Rainer Felkeneyer für die Bilder.

S-Bahnhöfe Skalitzer Straße und Görlitzer Bahnhof (1938 – 1951)
S+U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof (1951–1985)

Den heutigen Hochbahnhof Görlitzer Bahnhof (U1) hätte die Ost-West-S-Bahn in einem 45°-Winkel gekreuzt. Hier sollte ein Umsteigebahnhof unter der Wiener Straße zwischen S- und U-Bahn entstehen. Es wurden allerdings keinerlei Bauvorleistungen erbracht.
Ursprünglich waren 1938 zwei Bahnhöfe rund um den Görlitzer Park geplant: ein nordwestlicher S-Bahnhof namens Skalitzer Straße unter dem Hochbahnhof (heute U1) und ein südöstlicher S-Bahnhof namens Görlitzer Bahnhof unter dem Fernbahnhof (heute in Höhe der Bushaltestelle Spreewaldplatz). Mit der Schließung des Görlitzer Fernbahnhofs am 29. April 1951 änderten sich die Verhältnisse: der geplante südöstliche gleichnamige S-Bahnhof wurde überflüssig. Übrig blieb nur die Idee des nordwestlichen Bahnhofes, der von da an den Namen "S+U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof" tragen sollte.

S-Bahnhof Lohmühlenstraße (geplant 1965-1985)

In den Germania-Plänen war zwischen Görlitzer Bahnhof und Dammweg (heute Plänterwald) keine Station vorgesehen. Die Züge der unterirdischen Ost-West-S-Bahn wären kurz hinter dem Görlitzer Güterbahnhof ans Tageslicht gekommen und der Görlitzer Fernbahn bis zum nächsten Bahnhof Dammweg (heute Plänterwald) gefolgt, wo sie weiter in Richtung Grünau geführt worden wären. In den Flächennutzungsplänen zwischen 1965 und 1985 taucht in Höhe Kiefholzstraße - Ecke Lohmühlenstraße ein unterirdischer S-Bahnhof auf. Die S-Bahn wäre demnach erst kurz vor dem projektierten Kreuzungsbahnhof Kiefholzstraße wieder an die Oberfläche gekommen.

S-Bahnhof Kiefholzstraße (geplant 1965-1985)

In den Germania-Plänen war auch ein Bahnhof Kiefholzstraße nicht enthalten. Nach 1965 dachte man jedoch daran, in Höhe der Kiefholzstraße einen Kreuzungsbahnhof zwischen Ringbahn und Görlitzer Bahn zu errichten. Die zwischen dem Ringbahnhof Treptower Park und der Station Plänterwald (Görlitzer Bahn) gelegene Kurve, die heute von den Linien S8, S9 und S85 durchfahren wird, wäre entfallen.
Der Bahnhof Kiefholzstraße ist im aktuellen Stadtentwicklungsplan 2015 nicht mehr aufgeführt, obwohl bei den Bauarbeiten zur Wiederinbetriebnahme der Ringbahnstrecke Sonnenallee - Treptower Park vorbereitende Maßnahmen durchgeführt wurden. Er soll eines Tages den weiten Bahnhofsabstand an der Ringbahn zwischen Sonnenallee und Treptower Park halbieren und die dortigen Wohngebiete an das Schnellbahnnetz anbinden.


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Autor:
Andreas Jüttemann

Quellen:
Johnson, Uwe (1974): Berliner S-Bahn. 50 Jahre elektrischer Schnellverkehr; Düsseldorf; alba- Verlag
Bley, Peter. (1982): Berliner S-Bahn. Vom Dampfzug zur elektrischen Stadtschnellbahn; Düsseldorf; alba-Verlag
Strowitzki, Bernd (2002): S-Bahn-Berlin. Berlin; GVE-Verlag
Demps, R. (1995): Eisenbahn-Reviere Berlin. Berlin; transpress
DVN e.V. (1994): U8. Geschichte(n) aus dem Untergrund. Berlin; GVE-Verlag
Grabski, M. (1939): Der Bau der Berliner Nordsüd-S-Bahn - Ein Rückblick in: Nordsüd-S-Bahn Berlin, 2. Folge 1939, Sonderdruck aus "Verkehrstechnische Woche", Hefte 40-46, 1939
Curth, G.J. & Dittfurth, U. (1992): Nord-Süd-Bahn. Vom Geistertunnel zur City-S- Bahn. Berlin: GVE-Verlag
Kuhlmann, Bernd (2005): Eisenbahn-Größenwahn in Berlin; Berlin; GVE-Verlag
[1] Umstrukturierungen bei der Berliner S-Bahn

weiterführende Quellen, Buchtipps und Links:
Eisenbahn-Größenwahn in Berlin; Bernd Kuhlmann, Verlag GVE, 2005
Netzplan zum Buch Eisenbahn - Größenwahn in Berlin; DBV, 2005
Architekturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

letzte Änderung:
26. Oktober 2008

Veröffentlichung:
26. Oktober 2008

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