Ein Zug blieb in der Steigung hängen


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Es muß im Herbst 1951 gewesen sein, als ich abends nach der Arbeit vom Bahnhof Botanischer Garten kommend im Anhalter Bahnhof in den Rangsdorfer Zug umstieg, um nach Mahlow/Blankenfelde zu fahren. Da der Zugabstand auf unserer Strecke 30 Minuten betrug, nicht allzulange davor waren es noch 40 Minuten, hatte ich immer ausreichend Zeit, um bis zum Anhalter hinabzufahren. So konnte ich mir das lästige doppelte Umsteigen in Schöneberg und Papestraße ersparen.

Unser Rangsdorfer Vollzug kam gemächlich, aber pünktlich angerollt. Kurz vorher hatte der Lichterfelder Zug den Anhalter Bahnhof verspätet verlassen. Als unser Zug sich mit mäßiger Geschwindigkeit in Gang setzte und die Abzweigung nach Wannsee mit vermindertem Tempo, wie auch heute noch, unterquert hatte, blieb dann die erneute Beschleunigung aus, um Schwung für die Tunnelausfahrt nach Yorckstraße zu gewinnen.

Knapp vor dem Tunnelmund, es dämmerte bereits, blieb der Zug, schon in leichter Steigung, plötzlich stehen. Was war geschehen? Unruhe breitete sich unter den Fahrgästen aus. Ziemlich oben in der Steigung hatte der Lichterfelder, ich glaube es war ein Halbzug - in der Regel waren es damals nach Lichterfelde Dreiviertelzüge - seinen Geist aufgegeben und den Aufstieg nach Yorkstraße nicht geschafft.

Unser Zug schob sich nun langsam an den Lichterfelder heran und kuppelte mechanisch und elektrisch an. Und dann geschah ein Wunder. Aus der Steigung heraus und ohne Anlauf schob und zog sich das außergewöhnliche, jetzt durchgehend steuerbare Zwölf-Wagengebilde unter fürchterlichem Gekrache, Geblitze und Gefunke mit quälenden Motoren zentimeterweise die Steigung hinauf. Alle im Zug bangten, ob er es wohl schaffen würde. Rufe, wie raustreten zum Schieben, flogen von einem Wagenende zum anderen. Manchmal schien es, als würde es nicht weiter gehen, aber dann ruckte es wieder etwas voran. Es war, als wollte die Steigung kein Ende nehmen. Vielen von uns standen die Schweißperlen auf der Stirn. Aber dann rollten wir doch noch ganz sacht in Yorkstraße ein. Der Schwanz unseres Zuges hing noch halb in der Steigung. Der Lichterfelder konnte abkuppeln und mit eigener, aber verminderter Kraft, in der Ebene weiterfahren. Offensichtlich hatten bei ihm wenigstens die Motoren eines Triebwagens die Tortur des Aufstieges ausgehalten.

Es kam in der Nachkriegszeit oft genug vor, daß nur ein Triebwagen eines Halbzuges schieben oder ziehen mußte. Manchmal waren in einem Dreiviertelzug sogar zwei Triebwagen defekt. Dann mußte der verbliebene dritte Triebwagen die Schwerarbeit allein leisten - "Lastensegler" nannte man das bei der DR.

Uns "Rangsdorfern" fiel jedenfalls ein Stein vom Herzen, daß unser Zug diesen Kraftakt ohne durchgeschmorte Motoren und Sicherungen unversehrt überstanden hatte und wir schließlich, zwar reichlich verzögert, aber erleichtert die Heimfahrt fortsetzen konnten.


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Autor:
Werner Korb
entnommen aus: Berliner Verkehrsblätter, Heft 11/1985
mit freundlicher Genehmigung der Berliner Verkehrsblätter

letzte Änderung:
20. Oktober 2013

Veröffentlichung:
20. Oktober 2013

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