Die Traditionszüge der Berliner S-Bahn


Der erste Zug

Im Jahre 1969 übereignete die Deutsche Reichsbahn dem Verkehrsmuseum Dresden 32 Lokomotiven, diese wurden somit Museumsgut. Das fand unter Eisenbahninteressierten großen Anklang. Auf der Grundlage von weiteren Gesetzen beschloß in den 1970er Jahren das Ministerium für Verkehrswesen der DDR, mehrere Schienenfahrzeuge als Zeugen der Eisenbahngeschichte zu erhalten. Für die Berliner S-Bahn sah man einen Zug der Bauart 1927/28 vor, da er ein typischer Vertreter seiner Epoche war. Nachdem Anfang der 1980er Jahre noch drei ehemalige Steuerwagen wieder als solche hergerichtet worden waren, konnte die Reichsbahndirektion Berlin nun aus sechs Viertelzügen auswählen, die in der wagenbaulichen Ursprungsausführung Trieb-/Steuerwagen durch das Netz fuhren. Die Wahl fiel letztendlich auf den 275 659/660.


  Triebwagen (ET) Steuerwagen (ES)
Indienststellung 28. Januar 1929 28. Januar 1929
Wagennummer bei Indienststellung 2303 5447
Wagennummer ab 1942 ET 165 155 ES 165 155
Wagennummer ab 1970 275 659-1 275 660-9
Wagennummer heute (nicht angeschrieben) 488 165-2 888 602-0
Wagenbaulicher Teil Orenstein & Koppel Berlin Wegmann & Co Kassel
Umbau des Steuer- in einen Beiwagen - 13. März 1945
Rückbau des Bei- in einen Steuerwagen - 29. August 1955

Fahrzeug-Steckbrief mit ausgewählte Daten.

Bild: 275 659/660 in Zehlendorf auf der Zuggruppe 5

Im Frühjahr 1980 bedient 275 659/660 die Zuggruppe 5 (Zehlendorf—Düppel).
Der Viertelzug wurde Anfang 1983 nach Ostberlin überführt.

Im Jahre 1984 wurde das Fahrzeug in das Reichsbahnausbesserungswerk (Raw) Berlin-Schöneweide überstellt. Die Verwaltung der S-Bahn und das Raw vereinbarten, daß der Auslieferungszustand des Fahrzeuges wiederherzustellen sei. Da die Fahrzeugtechnik nach der damaligen Auslieferung stetig den Anforderungen angepaßt wurde und auch der komplette Fahrzeug-Zeichnungssatz von 1928 nicht mehr vorlag, mußten bei der Wiederherstellung hier und da Kompromisse eingegangen werden, so daß es nun Einbauten bzw. Bauteile gab, die bei der Indienststellung des Fahrzeuges nicht vorhanden waren. Eine Auswahl:

Einige weitere technische Details, die in den nachfolgenden Jahren in das Fahrzeug eingebaut wurden, beließ man ebenfalls. Da die Hauptaufgabe des Raw in der schweren Fahrzeuginstandhaltung für die S-Bahn und die BVB bestand, konnten die Arbeiten am Museumszug nur nach und nach ausgeführt werden. Hinzu kam das Fehlen von Zeichnungen und Unterlagen, so daß vielfach nach Fotos, gerade im Innenraum, rekonstruiert werden mußte. Das verlangte vom Werkstattpersonal viel Einfühlungsvermögen. So konnten die Dekore der Holzwände, der Vorhänge sowie der Sitzpolster nur annähernd wiederhergestellt werden.

Bild: feierliche Übergabe des Museumszuges

Ein kleiner Kreis von Eisenbahnern und Eisenbahnfreunden hat sich zur feierlichen Übergabe des Museumszuges am 28. Juni 1987 auf dem Bahnhof Alexanderplatz eingefunden und lauscht der Rede des Vizepräsidenten der Berliner S-Bahn.

Nach über zwei Jahren Umbauzeit ging der Museumszug zwischen Schöneweide und Zeuthen am 28. Mai 1987 auf Probefahrt. Drei Tage später, am 31. Mai, übergab das Raw den Zug wieder an sein Heimat-Bw Grünau. Einer breiten Öffentlichkeit wurde das nunmehrige Schmuckstück während einer vom 12. bis 21. Juni 1987 dauernden Fahrzeugausstellung auf dem Wriezener Bahnhof zugänglich gemacht. Die offizielle Übergabe fand am 28. Juni 1987 auf dem Bahnhof Alexanderplatz statt. Der Vizepräsident der Reichsbahndirektion Berlin für die S-Bahn, Dr. Günter Nierich, übergab in einer feierlichen Rede und zu Ehren der 750-Jahr-Feier Berlins im Beisein von Eisenbahnern und S-Bahnfreunden das Fahrzeug dem Betrieb. Die anschließende Sonderfahrt nach Ahrensfelde blieb den geladenen Gästen vorbehalten.
Die erste offizielle Fahrgastfahrt fand am 15. August 1987 im Rahmen einer alljährlichen Solidaritätsaktion des Ostberliner Journalistenverbandes statt. Zusammen mit dem Baumusterzug der BR 270 konnte man für eine Mark zwischen Alexanderplatz und Mahlsdorf ohne Halt hin- und herfahren.

Das neue Schmuckstück der Berliner S-Bahn wurde in der Triebwagenhalle Bernau untergestellt. In der Folgezeit bildete sich unter den dortigen Mitarbeitern ein fester Kern heraus, der sich liebevoll um das Fahrzeug kümmerte. Aufgrund dieser Stationierung hieß der neue historische Zug umgangssprachlich bald auch Bernauer Viertel.

Der museale Fahrzeugbestand vergrößert sich

Im Jahre 1990 wurden drei weitere Viertelzüge der Bauart Stadtbahn in den Wagenpark der historischen Fahrzeuge eingereiht:

Diese drei Viertelzüge wurden im S-Bahnbetriebswerk (S-Bw) Friedrichsfelde stationiert. Von hier aus starteten sie für die Öffentlichkeit zu vielen Sonderfahrten. Das Bernauer Viertel, aufgrund seiner umfangreich rekonstruierten Innenausstattung etwas besonderes, wurde nur zu bestimmten Anlässen für öffentliche Sonderfahrten eingesetzt. Aufgrund dieser Eigenständigkeit prägte sich für diesen Viertelzug zusätzlich der Begriff Museumszug ein. Beliebt war dieser Viertelzug allerdings bei Charterfahrten. Da er nur Sitzplätze für 112 Personen besaß, konnte es durchaus vorkommen, dass er für größere Personengruppen mit einem oder mehreren Vierteln des Friedrichsfelder Traditionszuges gekuppelt wurde.

Die drei Viertelzüge des Friedrichsfelder Traditionszuges wurden von einer Arbeitsgruppe "Traditionszug" betreut, die hauptsächlich aus Mitarbeitern des S-Bw Friedrichsfelde bestand. Aus dieser Gruppe entstand am 23. Oktober 1991 der Verein Historische S-Bahn e.V., dem jedermann beitreten konnte. Neben der Aufbewahrung von historischen S-Bahnzügen nahm weiterhin die Betreuung der Sonderfahrten des Friedrichsfelder Traditionszug (in wechselnder Zusammenstellung) breiten Raum ein. So gab es eine Sonderfahrt am 14. März 1992 zum Jubiläum "30 Jahre elektrischer S-Bahnbetrieb Grünauer Kreuz—Schönefeld", die bereits vom Verein betreut wurde.
Seit April 1994 gab es regelmäßige Termine für Sonderfahrten: jeden vierten Sonnabend im Monat fuhr der Friedrichsfelder Traditionszug ca. 5-6 Stunden quer durch Berlin auf unterschiedlichen Strecken. Als "Große Wochenend-Rundfahrt mit Kaffee und Kuchen" waren sie über viele Jahre hinweg sehr beliebt - mit ihnen konnte viel Werbung für die S-Bahn an sich und die S-Bahngeschichte im besonderen getätigt und ein großes Publikum erreicht werden.

Der Museumszug blieb bei solchen Fahrten meist außen vor. Nur zu besonderen Anlässen wurden diese zwei Wagen in den Traditionszug eingereiht oder es wurden separate Fahrten unternommen. Nachfolgende Tabelle soll seinen Einsatz auf öffentlichen Sonderfahrten sowie auf ausgewählten Ausstellungen zeigen, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit der aufgeführten Termine erhoben wird. Der Museumszug war auch an vielen S-Bahn-Fahrzeugausstellungen in den verschiedenen Betriebswerkstätten der S-Bahn Berlin sowie an vielen Fahrten des Weihnachtszuges beteiligt, auf die in dieser Übersicht nicht eingegangen wird:

Weitere Fahrzeugneuzugänge folgen

In den Folgejahren gab es weitere Neuzugänge im historischen Wagenpark:

Nach Schließung der Triebwagenhalle Bernau im Jahr 2001 wurde der Museumszug in der Triebwagenhalle Erkner stationiert. In der Folge starteten seine weiteren Einsätze jeweils von Erkner aus.

Zwei Jahre zuvor, im Jahre 1999 wurde die Panorama-S-Bahn eingeweiht. Schnell bildeten sich regelmäßige Sonderfahrten mit Stadtbilderklärung an den Wochenenden heraus, die auch groß vermarktet wurden. Wenn der seltene Fall eintrat, dass die Panorama-S-Bahn für ihre geplanten Fahrten ausfiel, wurde kurzfristig an ihrer Stelle der Museumszug eingesetzt. Auch als Ersatz bei planmäßigen Wartungsarbeiten der Panorama-S-Bahn stand der Museumszug bereit. So wurde z.B. im Winter 2006/2007, während die Panorama-S-Bahn ihre erste fristgemäße Hauptuntersuchung erhielt, der Museumszug an einem Wochenende als Ersatz eingesetzt.

Mängel und fehlendes Wissen setzen dem Wagenpark zu

Seit der Verabschiedung der Altbaufahrzeuge im Jahr 2003 wurden, außer den wenigen historischen Fahrzeugen und Sonderfahrzeugen, keine Altbaufahrzeuge mehr im Werk Schöneweide gewartet. In der Folge ging das Know-how der Unterhaltung der Altbaufahrzeuge schleichend verloren. Ein einsetzender Personalabbau begünstigte noch diese Entwicklung. An den seit 2005 in Schöneweide hauptuntersuchten Fahrzeugen entdeckte der Verein Historische S-Bahn e.V. Mängel im Spiel Wagenkasten - Drehgestell, die u.a. dazu führten, dass an einigen Bahnsteigkanten im S-Bahnnetz die Schrammborde in Berührung mit den Bahnsteigkanten gelangten und Wagen nicht mehr in einer Flucht standen. Dieser Umstand wurde durch das Werk Schöneweide nur als ein optischer Mangel abgetan - bis es am 14. Juni 2008 zu einer Entgleisung des Wagens EB 165 471 während einer Leerfahrt im Berliner Nordsüd-S-Bahntunnel kam. Eine nachfolgende Untersuchung fand auf die Schnelle keinen plausiblen Grund, sodass weitere Sonderfahrten mit den anderen Sonderzügen bis zum Jahresende möglich waren.

Am 15. Januar 2009 wurde zwischen der S-Bahn und dem Verein Historische S-Bahn e.V. vereinbart, dass bis zum Abschluss der technischen Untersuchungen bzw. bis zur Beseitigung der Ursache keine historischen Sonderzüge mehr eingesetzt werden. Zuvor durchgeführte ausführliche Untersuchungen führten zum Ergebnis, dass die Auflagerkräfte zwischen Wagen und Drehgestell ungleich verteilt waren - eine Arbeit die vermutlich bei der Hauptuntersuchung im Werk Schöneweide im Jahr 2006 nicht fachmännisch korrekt ausgeführt wurde. Zu einer Nachjustierung des übrigen historischen Wagenparks kam es allerdings nicht.

Eine Entgleisung des Halbzuges 481 503/603 infolge eines Radscheibenbruches am 1. Mai 2009 in Bln-Kaulsdorf bildete den Auftakt für umfangreiche Untersuchungen im Bereich Rad-Schiene-Bremse bei den Berliner S-Bahnfahrzeugen, was infolge gefundener Unregelmäßigkeiten zur Folge hatte, dass der S-Bahnbetrieb empfindlich eingeschränkt werden musste. Der Vorteil, dass dadurch auch die Unregelmäßigkeiten an den historischen Sonderfahrzeugen endlich ernst genommen wurden, wich dem Nachteil, dass die Probleme nicht beseitigt werden können, da es Vorrang hat, den stark angeschlagenen Wagenpark der Regelzüge wieder einsatzfähig zu bekommen. Zusätzlich erklärte die S-Bahn Berlin GmbH sich gegenüber dem Eisenbahn-Bundesamt (EBA) bereit, keine gegossenen Radsätze im Fahrgastverkehr mehr einzusetzen. Damit müssen an einer weiteren Stelle Umbauten der Traditionszüge, die über solche Radsätze verfügen, vorgenommen werden.

Sämtliche betriebsfähigen Traditionszüge bleiben daher bis auf weiteres abgestellt; ein erneuter Einsatz hängt von einem Werkstattaufenthalt ab, bei dem die benannten Probleme beseitigt werden können. Derzeit plant der Betreiber der Fahrzeuge, die S-Bahn Berlin GmbH, keinen solchen Werkstattaufenthalt für ein historisches Fahrzeug. Während des S-Bahn-Sprechtages des Berliner Fahrgastverbandes IGEB Ende September 2012 bezog die S-Bahn Berlin GmbH zum ersten Mal in der Öffentlichkeit die Position, dass zukünftig eine neue Arbeitsaufteilung zwischen S-Bahn und Verein Historische S-Bahn vorgenommen wird. Hiernach soll sich der Verein um alle Fragen der Wiedereinsätze der historischen Züge kümmern und die Fahrzeuge selbst zum Laufen bringen. Die S-Bahn Berlin GmbH will den Verein dabei lediglich unterstützen, aber keine aktive Rolle mehr einnehmen.

Die Zukunft des Museumszuges 2303/5447

Obwohl die Untersuchungsfrist nach § 32 Eisenbahnbau- und Betriebsordnung für dieses Fahrzeug noch bis zum 16. Juli 2013 (und mit der zweimaligen Verlängerungsoption sogar bis 2015) gegeben ist, wird sein Einsatz für öffentliche Sonderfahrten auf lange Zeit unterbleiben müssen. Infolge einer mehr als drei Jahre andauernden Abstellung auf dem Freigelände des Werkes Schöneweide sind zahlreiche schwerere Schäden entstanden:

Seit dem 11. Januar 2013 ist der Museumszug wieder an seinem angestammten (und trockenen) Platz in der Triebwagenhalle Erkner untergebracht.

Bild: Auf dem Abstellgleis

Auf dem Abstellgleis. Von weitem machte der Zug noch einen guten Eindruck, aber wehe man kam ihm näher.

Kommentar

Einer schnellen Inbetriebnahme stehen somit genug Probleme gegenüber, zu deren Lösung ein klares Bekenntnis des Fahrzeugeigentümers, der S-Bahn Berlin GmbH, zum Fahrzeug und letztendlich auch dem Verein Historische S-Bahn e.V. gegenüber, gefragt ist. Es ist in Ordnung, daß der Betreiber der Berliner S-Bahn sich erst einmal um die Beseitigung der S-Bahnkrise kümmert. Doch gerade hier in Berlin geht es auch um Geschichte und Traditionspflege, sind doch die S-Bahn und die Stadt durch die geschichtlichen Ereignisse eng miteinander verbunden. Und gerade wegen der Geschichte der einst zweigeteilten Stadt kommen die Touristen nach Berlin, das sollte das Pfund sein, mit dem man wuchert ...

Das Ausquartieren der Fahrzeuge vom Museumsstandort Erkner ist aufgrund der derzeitigen baulichen Situation am Ostkreuz verständlich. Jedoch kann der jetzige Zustand nicht bis zum Ende der Bauarbeiten in ein paar Jahren anhalten. Hier sind schnellstmöglichst Lösungen gefragt, um das historische Erbe der S-Bahn zu schützen, zu erhalten und an spätere Generationen weiterzugeben. Viele Verantwortliche sollten sich einmal darüber Gedanken machen, daß Zukunft auch von Herkunft kommt, auch wenn es dafür keine Abrechnungsposition am Jahresende geben wird. Wir leben in einer schnellebigen Welt, aber muß man immer nach vorne wegschreiten, ohne zurückzusehen? Wer nur auf sich selbst achtet, wird auch künftig mit eigenverschuldeten Krisen leben müssen.

Hier sind, egal wie die Zukunft des Unternehmens aussieht, Weitblick und Traditionssinn auch beim Mutterkonzern Deutsche Bahn AG gefragt. Das kostet natürlich Geld, aber das ist Geld, was gut angelegt ist - im Sinne der S-Bahn, des Vereines, des Konzernes und auch der Fahrgäste. Bleibt zu hoffen, da sich alsbald eine tragfähige Lösung für alle Beteiligten abzeichnet, so daß der Verfall der Fahrzeuge aufgehalten werden kann und auch künftige Generationen in den Genuß kommen können, die Faszination der guten alten S-Bahn für sich zu entdecken: des röhrenden Singens des legendären Motors des Typs GBM 700 oder das typische Zischen der Bremse, das einem Atemzug gleicht.

Die weitere Geschichte des Museumszuges kann nicht von der zukünftigen Entwicklung der Berliner S-Bahn entkoppelt werden. Hoffentlich wird der Kreis derer, die das erkennen, immer größer. Nur dann kann sich die Hoffnung der Autoren dieser Seite erfüllen, dass dieses Schmuckstück auch wieder fahren wird.

Mike Straschewski, Webmaster stadtschnellbahn-berlin.de


Autoren:
Gordon Charles, Walied Schön, Mike Straschewski

Quellen:
Traditionspflege bei der DR; Rolf Steinicke; Verkehrsgeschichtliche Blätter; Heft 3/1985
Der Museumszug der Berliner S-Bahn; Horst Grabow, Hans-Joachim Hütter; Verkehrsgeschichtliche Blätter; Heft 5/1987

Filmtipp:
Der Museumszug und mit der Stadtbahndampflokomotive 74 1230 über den Südring; Bohrer-Video

Weiterführender Link:
Webseite: Historische S-Bahn e.V.

letzte Änderung:
3. Februar 2013

Veröffentlichung:
22. Oktober 2012 (Dieser Text ersetzt den Aufsatz zum 25. Jubiläum des Museumszuges vom 27. Juni 2012)

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