Eine Fahrt auf der ehemaligen Görlitzer Bahn im Jahr 1985


Der Eisenbahner Wieland Schulze leistete seinen 18-monatigen Grundwehrdienst beim Grenzkommando Mitte der Grenztruppen der DDR. Dieses Grenzkommando war für die Sicherung der Berliner Mauer zuständig. Er erinnert sich:

Im Frühjahr 1985 wurde ich während meines Grundwehrdienstes bei den Grenztruppen der DDR nach sechsmonatiger Ausbildung in Wilhelmshagen nach Rummelsburg in ein Grenzregiment versetzt. Dort wurde ich als Posten im Grenzdienst eingesetzt. Unter anderem stand ich oft als Posten auf der alten Eisenbahnbrücke über der Kiefholzstraße. Dort lag noch ein Gleis, welches auch damals noch befahren aussah. Als Eisenbahner wunderte ich mich, dass es hier noch Zugfahrten geben sollte. Von den Postenführern erfuhr ich, dass es noch unregelmäßig Fahrten vom Treptower Güterbahnhof zum Görlitzer Bahnhof über das Gebiet der damaligen DDR gab. Recht schnell sollte ich diese Fahrten erleben und auch mitmachen. Hier ein Bericht, wie die Fahrten aus Sicht eines Grenzers abliefen.

Sollten Fahrten zum Görlitzer Bahnhof stattfinden, wurden sie von den zuständigen Stellen der Deutschen Reichsbahn angemeldet. Wir als Posten merkten schon bald an der Rangierlok auf Westberliner Seite, dass es wieder Fahrten gab. Sie standen meistens rechtzeitig vor dem Tor in der Mauer. Die Fahrten wurden immer durch vier Grenzer begleitet. Dazu kam ein Unteroffizier mit einem Posten zu uns hoch auf die Brücke. Der Unteroffizier hatte die Schlüssel, damit das Tor aufgeschlossen werden konnte. Vor dem Tor gab es noch zwei Tore im Signalzaun. Dies war ein Zaun aus lauter Drähten, die beim zusammenkommen zweier Drähte einen Alarm auslösten. Die Tore waren auch mit dieser Sicherung versehen und konnten nur durch die Führungsstellen geöffnet werden. Dazu gab es Kennwörter, damit die Tore nicht durch Unbefugte geöffnet wurden. Der Postenbereich über der Kiefholzstraße hatte ein Tor im Signalzaun vor der Mauer und eins zum Hinterland.

Bild: Beschaubrücke

Wenige Meter vor der Staatsgrenze der DDR. Ein Tor versperrt die Weiterfahrt in Richtung Görlitzer Bahnhof.
Dahinter die Beschaubrücke, auf der bei Übergabefahrten die Grenzsoldaten die Fahrzeuge von oben kontrollierten. Links erkennbar die ehemaligen Gleise der Ringbahn.
In den 1980er Jahren wurde das Drahtzauntor in der Mauer durch ein Blechtor ersetzt (Sommer 1979).

Nachdem der Unteroffizier mit der Führungsstelle über das Grenzmeldenetz Verbindung hatte und die beiden Zauntore freigegeben wurden, öffneten wir sie und gingen zum Blechtor in der Mauer. Dort wurde auch das Tor geöffnet und der Zug fuhr in Richtung Ostberlin weiter. Hinter den hinteren Signalzaun hielt er noch mal an, weil wir ja alle Tore wieder schließen mussten. Mittlerweile waren auch zwei "Genossen" der Transportpolizei zu uns gestoßen, die den Zug auf dem Führerstand der Lok begleiteten. Wir vier Grenzer durften nicht auf dem Führerstand mitfahren, sondern standen auf dem Rangiertritt der Reichsbahn 106er. Für mich, als ausgebildeter Lokführer auf dieser Lok, eine neue Erfahrung.

Nachdem wir unsere Plätze auf der Lok eingenommen hatten, ging die Fahrt weiter. Es dauerte schon eine Weile, bis wir auf diesem Gleis das andere Ende der DDR erreichten. Der Oberbau war nicht der Beste, so dass der Zug meiner Schätzung nach mit ca. 10 Stundenkilometer die Strecke befuhr. Vor den Grenzanlage hielt der Zug an, die beiden "Genossen" von der Trapo stiegen von der Lok, die durften natürlich nicht mit nach Westberlin fahren und mussten auch vor dem Hinterlandzaun warten, bis der Zug zurück kam. Dort gab es auch wieder zwei Tore im Signalzaun und in der Mauer ein Blechtor. Diese wurden durch uns geöffnet und der Zug fuhr zum Görlitzer Bahnhof in Westberlin. Wir Grenzer ließen die Tore immer auf, bis der Zug zurückkam. Die Rückfahrt lief genauso ab und sobald der Zug wieder auf dem Treptower Güterbahnhof war, schlossen wir die Tore. Der Unteroffizier setzte sich mit seinem Posten auf sein Krad und fuhr davon. Jetzt waren wir beide wieder alleine auf der Brücke über der Kiefholzstraße.

Im Februar 2009 nutzte ich eine längere Dienstpause in Berlin, um mir mal den Treptower Güterbahnhof aus der Nähe anzusehen. Dabei musste ich auch sofort an die Zugbegleitungen im Jahr 1985 denken. So beschloss ich, die alte Trasse zu suchen und fand sie auch. Sie ist heute ein Rad- und Wanderweg und nur noch wenig erinnert dort an die alte Görlitzer Bahn, auf der ich als ehemaliger Grenzer die letzten Fahrten im Jahr 1985 miterleben durfte.

Ein Spaziergang entlang der Görlitzer Bahn im Februar 2009

Eine Fußnote der deutsch-deutschen Geschichte sei an dieser Stelle noch angefügt:
Wieland Schulze lebt seit Jahren mit einer ehemaligen Westberlinerin zusammen, die genau gegenüber einem der DDR-Wachtürme Mitte der 1980er Jahre in Neukölln gewohnt hatte. Während sie aufgrund ihrer Wohnungslage bis in den Wachturm hineinsehen konnte, sicherte er die Staatsgrenze der DDR. Ob sie damals schon Blickkontakte miteinander austauschten?


Weiterführende Artikel zum Thema Görlitzer Bahn (innerhalb Stadtschnellbahn-Berlin.de)

Der Görlitzer Bahnhof
Der Umbau der Görlitzer Bahn
Der Umbau der Signalanlagen im Bereich der Berliner S-Bahn auf der Görlitzer Bahn
Bilder von den Gleisanlagen zum Görlitzer Bahnhof im Bereich der Grenzanlagen
Luftbilder von den Gleisanlagen des Treptower Kreuzes und des Görlitzer Bahnhofes im Bereich der Grenzanlagen
Bilder von den ehemaligen Gleisanlagen zum Görlitzer Bahnhof - 2009
Hier finden Sie einen Gleisplan über den Kreuzungsbereich der Ringbahn/Görlitzer Bahn


zurück zur Streckenbeschreibung der Görlitzer Bahn


Bearbeitung für die Webseite:
Mike Straschewski

letzte Änderung:
30. August 2009

Veröffentlichung:
30. August 2009

nach oben