Werdegang eines Triebfahrzeugführers in den 1950er Jahren


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Angefangen habe ich bei der Berliner S-Bahn am 1. August 1955 im S-Bahnbetriebswerk Friedrichsfelde. Damals fehlte dem Schuppen, bedingt durch Kriegseinwirkungen, noch das halbe Dach, so dass die Schlosser und Putzer dem Wetter auf der Ostseite des Schuppens schutzlos ausgeliefert waren.

Da zu dem Zeitpunkt genug Schlosser vorhanden waren, wurde ich als Putzer eingeteilt. Die Züge wurden damals außen mit so genannter "Bimse" und Putzwolle handgereinigt. Die Fahrzeuge wurden mit der "Bimse" eingerieben und, nachdem es getrocknet war, wieder mit der Putzwolle entfernt. In acht Stunden musste ein Viertelzug gereinigt werden, zusätzlich gab es noch jemanden für die Fenster und die Innenreinigung. Am schlechtesten ließen sich die "Nietenzüge" putzen, da sich die Bimse an den Nieten hartnäckig hielt.

Erste Erfahrungen mit dem Betriebsdienst erfolgten durch Einsätze des Hilfsgerätezuges. Damals, bedingt durch schlechte Gleislagen und Kriegseinwirkungen, lag öfters mal ein Zug "im Dreck". Die Gleisanlagen waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle wieder auf den Vorkriegszustand wieder hergerichtet, vielen Strecken fehlte noch das zweite Gleis.

Im Oktober 1955 konnte ich einen Schaffnerlehrgang besuchen. Die Ausbildung erfolgte nicht wie heute: erst lernen, dann fahren, sondern drei Wochen unter Anleitung eines Lehrschaffners mitfahren. Dieser Lehrschaffner, das waren ausgebildete Schaffner mit Triebfahrzeugführerlizenz, brachte einem alles nötige Rüstzeug bei. Dazu gehörten neben dem Aufnehmen des Abfahrauftrages und der Streckenbeobachtung auch die schriftlichen Arbeiten wie den Fahrtbericht und den Stundenzettel. Des Weiteren gehörte dazu die Fahrgastraumbeleuchtung in Ordnung zu halten und sich um die Heizung zu kümmern. Zusätzlich kamen dann noch der Wechsel der Fahrtrichtungsschilder und das Anbringen des Schlusssignals hinzu. Der Fahrtbericht wurde bei jeder Fahrt ausgefüllt, das heißt, an jeder dritten oder vierten Station trug man ein, ob man pünktlich war oder nicht. Diese Arbeit entfiel erst endgültig mit der Einführung des Einmannbetriebes (EMB) im Jahre 1968.

Nach den drei Wochen erfolgte der theoretische Teil in der Schule, dort wurde von den Lehrern abgefragt, was man gelernt hat. Hinzu kam dann noch etwas Theorie hinzu. Anfang Dezember bestand ich erfolgreich meine Prüfung und konnte mich somit Triebwagenschaffner nennen. Ein Einsatz in meinem neuen Aufgabenfeld fand vorerst nicht statt, es dauerte etwas, bis mein Dienstregler das erste Mal zu mir sagte: "Du kannst morgen mal eine Tour machen." Bis dahin verblieb ich bei den Putzern. Trotzdem musste man jeden Tag in Uniform zum Dienst kommen, meldete sich beim Dienstregler, und wenn nichts war, hat man sich wieder umgezogen und ist putzen gegangen. Aber man stand auf Abruf, so dass man im Notfall schnell einspringen konnte.

Der große Tag kam heran, und vor Aufregung hatte ich die Hälfte vergessen. Wir standen vor einem gestörten Signal und man überlegt, wie war das nun? Aber mit der Zeit hatte man sich reingefummelt und man war Schaffner. Für ein weiteres halbes bzw. dreiviertel Jahr war man ein "Springer", mal im Schuppen putzen, mal auf einer Tour. Meistens musste man immer die Touren machen, die die planmäßigen Schaffner damals nicht gerne gemacht haben; das waren Reservedienste, Rangierdienste oder Bereitschaften. Dafür wurde kein Kilometergeld gezahlt. Schaffner bekamen für jeden gefahrenen Kilometer 0,026 Pfennige, Triebfahrzeugführer (Tf) bekamen 0,031 Pfennige. Im Schnitt waren das im Monat bei 3500-4000 Kilometern etwas mehr als 100,00 Mark als Nebenbezüge.

Wir hatten damals auch noch die 48 Stunden-Woche. Gearbeitet wurde nach einem Sieben-Tage Plan: 7 Tage arbeiten, 1 Tag Ruhe, damit der Plan "schiebt". Sonst hätte der, der am Sonntag seine Ruhe hat, immer am Sonntag seine Ruhe gehabt. Bei den Nachtdiensten brauchte man nur sechs Tage arbeiten und hatte dann einen halben Tag zusätzlich frei. Auch gab es noch so genannte "Doppeldienste", das heißt, einen Früh-Nacht-Dienst oder auch einen Früh-Spät-Dienst.

Nach Ablauf eines halben Jahres bekam ich dann eine Planstelle als Triebwagenschaffner. Ich hatte Glück und hatte als Triebfahrzeugführer einen duften Kollegen. Kurz vor der Eröffnung der S-Bahn Strecke Strausberg—Strausberg Nord zum Fahrplanwechsel am 3. Juni 1956 mussten wir zwei Nächte lang Schleiffahrten machen, das hieß, die Lauffläche der Stromschienen von unten her blank zu machen. Am Tage der Eröffnung kam dann der Vizepräsident der Deutschen Reichsbahn, Friedrich Kittlaus, mit auf den Zug. Unser Ablösepersonal kam auch etwas später. Dieses mussten wir noch auf die erforderliche Streckenkenntnis hin einweisen.

Im März 1957 durfte ich auf einen Triebfahrzeugführerlehrgang. Dieser lief im Grundprinzip genau so ab wie der Schaffnerlehrgang: erst eine vierwöchige Ausbildung auf dem Zug, danach wieder auf Schule für die Theorie. Für die Fahrpraxis half es einem, schon einmal als Schaffner auf der anderen Seite gestanden und gefahren zu sein. Einerseits war das zwar nicht erlaubt, andererseits musste man ja bei Dienstunfähigkeit des Tf den Zug anhalten können. Bloß was nützt das, wenn der Führer zwischen Friedrichshagen und Rahnsdorf ausfällt? Wo soll ich denn da Hilfe holen? Also hat mein Meester gesagt: "Also bis zum Bahnhof wirste das wohl schaffen." Dadurch konnte man sich mehr auf das theoretische in der Schule konzentrieren. Da musste man lernen, wie der Motorstromkreis, der Pumpenstrom- und die Lichtstromkreise funktionieren. Das ging dann soweit, das einer anfing, wie der jeweilige Stromkreis beginnt und mittendrin der nächste weiter erzählen musste.

Schließlich kam die Triebfahrzeugführerprüfung heran, und nach ein wenig Aufregung war man dann selbiger. Das war ja auch eine Geldfrage, ein Schaffner bekam damals 335,- Mark brutto, als Tf-Anwärter bekam man dann schon 345,- Mark. Wenn der Lehrgang bestanden war, erhielt man 355,- Mark. Wurde man dann als "Springer-Tf" eingesetzt, bekam man schließlich 390,- Mark, Plan-Tf bekamen 405,- Mark und Tf-Ausbilder schließlich 420,- Mark zuzüglich des Kilometergeldes.

Während der Ausbildung gab es auch noch die Störungsfahrten, die dauerten vierzehn Tage und fanden auf der Stadtbahn meist zwischen Köpenick und Karlshorst bzw. auf der Nordsüd-S-Bahn zwischen Lichterfelde Süd und Lichterfelde Ost statt. In Lichterfelde Süd wohnte zudem ein Lehrer, der den Belehrungszug mittels einer Knallkapsel anhielt, aufstieg und die weiteren Störungsfahrten unterrichtete.

Nach vier weiteren Jahren wurde man als Plan-Tf eingesetzt. Bis dahin fuhr man die ersten zwei Jahre als Schaffner, die nächsten beiden Jahre als "Springer"-Tf. Aufgrund der Altersentwicklung bei der S-Bahn konnte man später eine Planstelle ergattern. Wenn man zum Dienst gefahren ist, hat man sich meist gleich von unterwegs gemeldet. Da hieß es dann schon mal: Du fährst mal heute den oder den Zug. Ansonsten war so wie heute der Dienstbeginn in der jeweiligen Kaue. Damals befand sie sich noch in Lichtenberg, bevor sie später nach Ostkreuz wechselte. Wenn Störungen im Betriebsablauf eintraten, wurden, wenn möglich, die Züge samt ihren Personalen wieder rückgetauscht. So wurde verhindert, dass jemand der gegen 20.00 Uhr Feierabend hatte, erst gegen 22.00 Uhr seine Ablösung bekam. Bekam man keine Ablösung, war es Pflicht, eine halbe Runde weiterzufahren. Jedoch kamen da in Richtung Potsdam dann schon mal zwei Stunden zusammen. Da man aufgrund der Planstellen immer vom Gleichen abgelöst wurde, konnte man das privat regeln. So kam er dann das nächste Mal etwas eher oder wurde später abgelöst.

Auch waren die Dienste nicht so hektisch wie heute. Die Stadtbahn durfte nur mit 55 Stundenkilometern befahren werden, um den Fahrplan einzuhalten reichten meist schon 40-45 km/h aus. So ergab es sich auch einmal, dass wir eine zwanzigminütige Verspätung zwischen Grünau und Spandau wieder reinholten. Da wurden überall wo man kreuzen konnte, in Ostbahnhof, Friedrichstraße, Charlottenburg und Westkreuz die vorhergehenden Züge angehalten und man konnte vorbeifahren. Dazu gab es auch mal die K-Scheibe von den Fahrdienstleitern zu sehen. Als Leerzug oder als so genannter "Durchläufer" bekam man auch schon mal das Gegenstück zu sehen, die "L-Scheibe".

Noch in den Jahren 1955-56 gab es für Triebwagenpersonale die Lebensmittelkarte 1, die höchste, da man aufgrund seines Schichtdienstes leicht "privilegiert" war. Die S-Bahn gab dazu zusätzlich eine Kaltverpflegung aus. Der Anspruch daraus erwuchs aus den geleisteten Schichten. Am 30. des Monats gab es vom Dienststellenleiter einen Zettel, mit dem man sich zur Ausgabestelle der S-Bahn begab. Diese befand sich in den S-Bahnbögen zwischen Jannowitzbrücke und Alexanderplatz. Da konnten sich alle Triebwagenpersonale von Nordbahnhof, Wannsee, Papestraße, Friedrichsfelde, Erkner, Oranienburg, Velten und Grünau ihre Zusatzverpflegung abholen. Diese bestand aus Mehl, Zucker, Schmalz, Margarine usw. Dieses gab es für ein paar Pfennige. Nach Abschaffung der Lebensmittelkarten 1956 wurde diese Zusatzverpflegung eingestellt.


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Autor:
Wolfgang Genß, Berlin

letzte Änderung:
24. Dezember 2012

Veröffentlichung:
24. Dezember 2012

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