Der S-Bahnboykott


Der nachfolgende Aufsatz wird voraussichtlich zum Ende des Jahres 2015 komplett neu überarbeitet werden.

Bereits am 8. September 1951 erwog der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund in Westdeutschland) den Aufruf zu einem S-Bahnboykott, nachdem für die Interzonenverbindungen (Transitwege von und nach Westberlin / Westdeutschland) durch die DDR Straßenbenutzungsgebühren eingeführt worden waren. Dieser Aufruf wurde jedoch nicht von der Bevölkerung erhört. Das persönliche Interesse sich schnell in Groß-Berlin bewegen zu können, überwog diese nichtige Gebührenerhebung.

Am 13. August 1961 wurde in Berlin die Mauer errichtet. Fassungslos wurden die Arbeiten von den Menschen auf beiden Seiten der Stadt beobachtet. Jeder wollten etwas gegen den Bau unternehmen, aber keiner wusste wie. Die sofort eingeschalteten Alliierten sahen ihre Rechte nicht gebrochen, denn sie hatten weiterhin ungehinderten Zugang in alle Sektoren der Stadt (Grenzübergangsstellen). Der Bau der Mauer sei ein innerdeutsches Problem, mit dem die Militärregierung (Alliierte Kommandatura) nichts zu tun hätte.

Willy Brandt, damals Bürgermeister von Westberlin, rief auf einer Kundgebung zum S-Bahnboykott auf:

"Es ist unzumutbar, das die Westgeldeinnahmen der S-Bahn für den Einkauf des Stacheldrahtes verwendet werden."

Am 17. August 1961, also wenige Tage nach dem Mauerbau, rief der DGB zum Boykott der S-Bahn in den Westsektoren auf. Dem DGB war wahrscheinlich der S-Bahn Betrieb eines Unternehmens, welches den DGB nicht als Gewerkschaft akzeptierte, unlieb. Zudem hatte die S-Bahn bisher auch ein beachtliches Fahrgastaufkommen bewältigt. Die BVG (Berliner Verkehrsbetriebe) erhöhte ständig ihren Fahrpreis, die S-Bahn lag stark unter dem Preis. Aufgrund dieses "Billig-Anbieters" wurden eventuell die Lohnziele bei der BVG, vertreten durch den DGB, unterboten. Wahrscheinlich waren diese oder ähnliche Gründe für die Ursache dieses Aufrufs. Diesmal befolgten die Berliner diesen Aufruf, denn über den Bau der Mauer waren alle entrüstet. Die Deutsche Reichsbahn als Staatsunternehmen der DDR bekam hier die Prügel ab, die eigentlich die verantwortlichen Befehlshaber der demokratischen Republik abbekommen sollten. Denn die in Westberlin arbeitenden Eisenbahner waren selbst schockiert und waren für die Teilung der Stadt nicht verantwortlich, wurden jedoch von erbosten Berlinern beschimpft und angegriffen.

So wurden "Boykott-Agitoren" (Boykott-Aufrufer mit Plakaten) vor den Zugängen der S-Bahn postiert. Auf ihren Plakaten stand: "Der S-Bahn Fahrer zahlt den Stacheldraht", "Keinen Pfennig mehr für Ulbricht" oder "Trapos raus aus dem freien Berlin" . Als Reaktion auf den Streik verfasste der damalige Präsident der Reichsbahndirektion Berlin Otto Arndt einen offenen Brief an die Westberliner Bevölkerung.

Bild: Offener Brief

Die Westberliner mieden das ostdeutsche Verkehrsmittel, die BVG orderte zahlreiche Busse aus dem Bundesgebiet um einen provisorischen Ersatzverkehr neben den S-Bahn Strecken einzurichten. Aus diesen Provisorien wurde ein Dauerzustand. Bis 1984/93 fuhren die Busse neben den S-Bahnstrecken. Am bekanntesten waren die Linien 84 (Steglitz - Westtangente - Schöneberg), 65 (Neukölln - Stadtautobahn - Wedding) und 66 (Wannsee - AVUS - Zoo).

In den Jahren bis 1984 fuhren die S-Bahn Züge nahezu leer durch die Westsektoren. Sie galt bei den Frauen als gefährlich, da diese Überfälle auf den leeren Bahnsteigen und in den Zügen befürchteten. Zudem verrotteten die Anlagen, so daß sie nicht besonders einladend aussahen. Touristen wurde dieses Verkehrsmittel erst gar nicht gezeigt. In keinem Reiseführer oder Stadtplan gab es irgendwelche Hinweise. Das Verkehrsmittel wurde aus dem Stadtbild gelöscht, obwohl es täglich ein 173 Kilometer-Netz befuhr und kürzere Fahrzeiten als die BVG bot. Die BVG entfernte ab 1961 alle Hinweise auf ihren Anlagen, die auf die S-Bahn verwiesen. Selbst kaum Beachtung findende Zusatzbezeichnungen, wie "U-Bhf Neukölln -Südring-" wurden entfernt. In den Anzeigetafeln der Autobusse gab es keine Endstellen an S-Bahnhöfen, keine S-Bahn Linie wurde in die Streckenübersichtskarte der U-Bahn eingezeichnet.

Die Berliner liebten die S-Bahn, zogen sie schon immer der U-Bahn vor ("Man sieht was beim Fahren" oder "Sie ist der schnellste Weg."). Der Bau einer Mauer zur Trennung der Stadt ging zu weit und führte zu diesem Boykott, da es kein anderes Mittel gab, den Unmut zu zeigen.

Ab etwa 1975 fand ein Umdenken statt, da sich die Verkehrsprobleme in der Stadt steigerten. Aber offiziell wollte der Senat nicht auf die S-Bahn verweisen und baute daher das U-Bahn Netz aus. Bürgerinitiativen und ein Fahrgastverband (IGEB) wurden von verkehrspolitischen Gruppen gebildet. Diese Initiativen wurden anfangs als kommunistische Gruppen bezeichnet, da sie sich öffentlich bekannten, die ostzonale S-Bahn zu nutzen und sich dafür einzusetzen. Die Fahrgastzahlen erreichten in den 1970ern einen absoluten Tiefstpunkt. Die S-Bahn beteiligte sich am Nahverkehr mit nur noch 5%! 95 Prozent der so genannten Beförderungsfälle nutzten die BVG und den Taxiverkehr!

Der Betrieb brachte dem Betreiber, der Deutschen Reichsbahn, 130 bis 140 Millionen DM Verlust ein. Die Überlegung der Reichsbahn, den S-Bahn Betrieb an den Senat zu verpachten, wurden von Westberliner Seite abgelehnt. Im Jahr 1980 kündigte die Reichsbahn an, das Defizit zu begrenzen. Der Sommerfahrplan sah drastische Einschränkungen im Betrieb vor. Angedacht war, den Senat zu Handlungen zu fordern. Doch dieser winkte weiterhin mit der Bemerkung ab: "Die S-Bahn hat im Westberliner Nahverkehr keine Bedeutung. Der Nahverkehr ist durch ein schnelles U-Bahn und Omnibus-Netz ausgebaut, so dass kein Bedarf an diesem Verkehrsmittel besteht. Die aktuellen Fahrgastzahlen beweisen, dass die S-Bahn in Berlin (West) nicht notwendig ist." Die Beschäftigten, ein großer Teil war West-Berliner Personal, bangte um ihre Arbeitsplätze sowie Schichtzulagen und traten in den Ausstand.

Nach diesem Streik wurden nur noch wenige Strecken wieder in Betrieb genommen. In den nächsten vier Jahren nutzte ein kaum noch wahrzunehmender Anteil der Bevölkerung die S-Bahn. 1984 wurde die Betriebsführung an die BVG übertragen und die Fahrgastzahlen stiegen wieder rapide an. Offiziell jedoch wurde der Boykott nie beendet.


Autor:
Markus Jurziczek

letzte Änderung:
26. Oktober 2008

Veröffentlichung:
26. Oktober 2008

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