Fluchtversuch am Bahnhof Friedrichstraße


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Der nachfolgende Aufsatz stützt sich hauptsächlich auf Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR, die dem Autor durch den Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) zur Verfügung gestellt wurden. Beteiligte Personen wollten sich auf Nachfrage zu den damaligen Geschehnissen nicht äußern oder konnten nicht ausfindig gemacht werden. Die Namen der Beteiligten wurden geändert.

Dieser Aufsatz erschien erstmalig in den Berliner Verkehrsblättern, Heft 2 vom Februar 2019.

Freitag, der 27. Mai 1983. Der nachmittägliche Berufsverkehr bei der S-Bahn geht dem Ende entgegen. Die Triebfahrzeugführerin, die den Umlauf G(ustav) 12 zwischen den Bahnhöfen Friedrichstraße und Mahlsdorf durch Berlin führt, ist seit kurz nach 13 Uhr im Dienst. Der Zug besteht aus den Viertelzügen 276 123/124, 165/166, 129/130 und 159/160. Nach sechs Runden soll ihr Dienst mit dem Auslauf des Zuges in das S-Bahn-Betriebswerk Friedrichsfelde und den noch nötigen Abschlussarbeiten um 22:12 Uhr enden. Dazu wird es an diesem Tag nicht mehr kommen, denn bei der Zugfahrt 34818 (Mahlsdorf ab 17:52 Uhr, Friedrichstraße an 18:24 Uhr) kommt es zu einem Ereignis, über das sie heute nicht mehr sprechen möchte.

Im S-Bahnhof Marx-Engels-Platz (heute Hackescher Markt) steigt in das Dienstabteil des ersten Wagens und damit gleich hinter dem Führerstand der damals 24jährige L. ein. Beruflich arbeitet er als Beifahrer bei der Ost-Berliner Müllabfuhr und ist dem Alkohol nicht abgeneigt, so wie auch an diesem Tag. Er ist mit einem Luftdruckgewehr und zwei Schachteln mit je 200 Diabolos (=Projektile) bewaffnet, von denen er ein paar in seiner Hosentasche verstaut hat. In einer Vernehmung knapp vier Wochen später gibt er zu Protokoll:

Nachdem ich am 27.05.1983 gegen 17.15 Uhr den Berliner Fernsehturm wieder verlassen hatte, begab ich mich zur Gepäckaufbewahrung des S-Bahnhofes Alexanderplatz und holte von dort mein Luftdruckgewehr mit Diopter sowie den Beutel mit der darin befindlichen Kutte und dem Mehrklangsignalhorn ab. Danach fuhr ich dann vom dortigen Bahnhof mit der S-Bahn in Richtung Friedrichstraße. Auf dem Bahnhof Marx-Engels-Platz verließ ich die S-Bahn und setzte mich auf eine Bank. Bis zum Bahnhof Marx-Engels-Platz fuhr ich deshalb vor, weil mein Vorhaben nach meiner Ansicht nur von dort aus gestartet werden konnte. Schließlich hätte ich die S-Bahn nicht schon auf dem Bahnhof Marx-Engels-Platz durchfahren lassen können, weil dadurch mein Vorhaben gefährdet worden wäre. In einer solchen Situation wäre sicherlich die Grenzübergangsstelle Friedrichstraße vorinformiert worden, und dies wollte ich ja gerade vermeiden. Die ganze Angelegenheit sollte doch völlig überraschend erfolgen.

Da er seinen Plan für erfolgversprechend hielt, wartete er noch mehrere S-Bahn-Züge ab und stieg schließlich während des Abfertigungsvorgangs ein. Im Dienstabteil nahm er das Luftdruckgewehr aus der Transporthülle, lud es durch und rüttelte an der Tür zum Führerstand, um sich Zutritt zu verschaffen. Diese war verschlossen, ging jedoch kurz darauf auf. Da sich diese Türen auch mal von alleine öffneten, reagierte die Triebfahrzeugführerin indes nicht gleich darauf und konzentrierte sich auf den Bremsvorgang des Zuges, den sie gerade in Höhe des Stellwerkes Frio eingeleitet hatte. Sie fühlte sich jedoch beobachtet und sah beim Umdrehen, dass ein Gewehrlauf auf ihren Kopf gerichtet war.

L. rief ihr nun zu: „Gas geben! Durchfahren nach Westberlin!“ Die Triebfahrzeugführerin löste die Bremse wieder aus, nahm ihre Füße von der Sicherheitsfahrschaltung und hob in Höhe des Aufsichtsturms beide Arme, um ihren Kollegen und den im weiteren Fahrtverlauf anwesenden Grenzsoldaten zu signalisieren, dass sie bedroht wurde und nicht bewusst weiterfahren würde. L. forderte sie mehrfach auf, weiterzufahren. Der Zug fuhr mit geringer Geschwindigkeit am haltzeigenden Hauptsignal 466 vorbei und bekam zu einer zwischenzeitlich durch die Sicherheitsfahrschaltung eingeleiteten Zwangsbremsung nun zusätzlich eine weitere Auslösung durch die Fahrsperreneinrichtung am Streckenanschlag des Hauptsignals.

Bild: Ansicht westliches Bahnsteigende

Blick vom Gleis 6 des Bahnsteiges C in Richtung Westen. Links das damals seit vielen Jahren ständig haltzeigende Hauptsignal, rechts vom Gleis die Fahrsperre. (30.5.1983)

L. beugte sich über die Triebwagenführerin hinweg, griff zum Führerbremsventil und bewegte dieses mehrfach hin und her. Doch der Zug kam mit etwa zweieinhalb Wagenlängen (39,50 Meter) hinter dem Signal am westlichen Bahnsteigende zum Stehen. Die auf dem westlichen Bahnsteigabgang hinter einer Sichtschutzwand wachhabenden Soldaten meldeten um 18.25 Uhr umgehend ihren Vorgesetzten, dass ein S-Bahn-Zug über seinen Halteplatz hinausgefahren sei und führten umgehend gemäß „festgelegter Handlungsvarianten“ die Sicherungsmaßnahmen aus, um ein Betreten des Grenzsicherungsstreifen durch Reisende zu verhindern. Etwa 5 bis 8 Reisende verließen den ersten Wagen und liefen zum Ausgang, inwieweit diese von dem Ereignis etwas mitbekamen, bleibt unklar.

L. sagte der Triebfahrzeugführerin, dass er ihr nichts tun wolle und nicht auf sie schießen würde. Er war sich in seiner späteren Aussage sicher, dass sie verängstigt war. Er forderte sie mehrfach erneut auf, weiterzufahren. Sie verwies auf das Manometer für den Bremsdruck (wahrscheinlich ist hier das Manometer für die Hauptluftleitung gemeint), welches Null anzeigte und gab ihm zu verstehen, dass man ohne Luft nicht fahren könne. Hier bleiben die Aussagen in den Vernehmungen vage. Es ist davon auszugehen, dass die Triebfahrzeugführerin – unbewusst? – die Sicherheitsfahrschaltung wieder betätigt hatte, denn sonst hätte diese auch im Stillstand ununterbrochen geklingelt.Dass sich trotzdem keine Luft in die Hauptluftleitung füllen ließ, lag an der ausgelösten Fahrsperreneinrichtung des Fahrzeuges, hierzu hätte sie eine zusätzliche Bedienung ausführen müssen.

Bild: Zug und Wachpostenhäuschen

Blick auf den am westlichen Bahnsteigende zu Halten gekommenen Zug. (27.5.1983)
Weitere Bilder von jenem Abend finden Sie hier.

Zwischenzeitlich erkundete einer der Soldaten die brisante Situation. Die Triebfahrzeugführerin bemerkte ihn und hob wieder ihre Arme. L. öffnete das linke Seitenfenster und bedrohte den Soldaten mit seinem Gewehr und rief ihm zu, er wolle weiterfahren. Der Soldat und sein Postenführer begaben sich daraufhin in Deckung. Weitere alarmierte Soldaten sicherten mittlerweile den Bereich.

Diesen kurzen Moment nutzte die Triebfahrzeugführerin und bediente den Schalter für das Hilfsbetriebeschütz, so dass sich die Fahrsteuerung ohne weiteres nicht mehr bedienen ließ. Auf seine wiederholte Aufforderung, weiterzufahren, sagte sie ihm, dass man nun auch den Strom abgeschaltet hätte und drückte den Fahrschalterknopf, um ihm zu zeigen, daß sich nichts mehr tat. Auf die Aufforderung hin, Kontakt mit der Aufsicht aufzunehmen, damit diese den Strom wieder einschalten solle, wies sie ihn darauf hin, dass dies nicht möglich sei, denn sie hätte kein Mikrofon. Was auch stimmte, das eingebaute Funkgerät hatte nur eine Empfangs- und kein Sendeeinheit. L. wollte das nicht glauben, drückte einen Knopf, von dem er annahm, dieser hätte etwas mit dem Funkgerät zu tun und rief „Strom einschalten“, in der Hoffnung, dass ihn jemand hören möge. Da dies erfolglos blieb, holte er seine Mehrklangfanfare aus dem Dienstabteil, betätigte diese und forderte anschießend aus dem offenen Fenster wiederholt das Einschalten des Stromes.

Weitere Angehörige der Grenztruppen sowie der Transportpolizei hatten umgehend den Bahnsteig C gesperrt, so dass nur wenige Reisende den Fluchtversuch mitbekamen. Zudem verhinderte die schon erwähnte Sichtblende ein Beobachten des Vorganges. Eine am selben Abend verfaßte „Information 679/83“ konstatiert jedoch: „Von einigen Bewohnern der umliegenden Wohnhäuser des Schiffbauer Damms wurde aus den Fenstern der oberen Stockwerke dieses Vorkommnis beobachtet.“

Den nur wenige Meter entfernten Maschendrahtzaun hielt L. schon für die Grenze zu West-Berlin; er ließ gegenüber seiner Geisel verlauten: „10 Meter vor der Grenze, soll denn schon Schluß sein?“ Aus dem Seitenfenster rief er wiederholt, man solle ihn weiterfahren lassen und betätigte dazu seine Fanfare. Zudem vermutete er auf den umliegenden Dächern Scharfschützen und bedrohte die Triebwagenführerin nun immer wieder mit seinem Gewehr. Tatsächlich aber befand sich die Grenze ungefähr 1.200 Meter weiter am westlichen Ufer des Humboldthafens. Wäre die Weiterfahrt des Zuges gelungen, hätte diese Fahrt nach etwa 400 Metern an einem Prellbock geendet – und damit immer noch in Ost-Berlin.

Bild: Übersichtsplan zum Vorgang

Der Übersichtsplan "zum Verdacht des Terrors und ungesetzlichen Grenzübertrittes" zeigt die Situation an jenem Abend auf. Grau durch den Autor hervorgehoben der Standort des Zuges. (30.5.1983)
Im Rahmen der Ermittlungen wurden am 30.5.1983 durch das Ministerium für Staatssicherheit weitere Bilder von der westlichen Bahnhofseinfahrt zu Dokumentationszwecken aufgenommen.
Sie finden diese Bilder hier.

Mehrfach forderten ihn die Soldaten auf, sich zu ergeben und versuchten, ihn mit dem Werfen von Schottersteinen auf das Dach des Dienstabteiles abzulenken, was nicht gelang. Da nun „vier Spezialisten für Terrorabwehr“ eintrafen, verhielten sich die Soldaten ruhig. Diese Offiziere waren Angehörige der Passkontrolleinheit des Bahnhofes Friedrichstraße; drei von ihnen begaben sich auf das Dach des Zuges und bewegten sich zum Führerstand, während der vierte den Bereich absicherte. Einer der Offiziere auf dem Dach sichtete L. im Führerstand. Da L. ihn bemerkte, bedrohte er ihn mit dem Gewehr. Dieser Offizier, ein Leutnant, schlug daraufhin mit seiner Waffe auf die Führerstandscheibe und gab einen Schuss ab. Danach sprangen alle drei vom Dach in den Gleisbereich.

L. brachte sein Gewehr wieder in Stellung, so dass sich der Leutnant genötigt sah, erneut zwei Schüsse abzugeben. Der erste Schuss drang durch die Frontscheibe in die Wagendecke ein, der zweite in den Metallrahmen des Seitenfensters. Diesen Moment der Ablenkung nutzten die anderen beiden Offiziere, um in den Führerstand zu gelangen, L. zu überwältigen und festzunehmen. Durch das splitternde Glas wurde die Triebfahrzeugführerin an einem Auge verletzt und noch am Abend in der nahegelegenen Charité behandelt. Ein am nächsten Tag verfasster MfS-Bericht stellt fest: „Um 18.50 Uhr war die Sicherheit im Postenbereich wieder hergestellt.“

Nachdem das Ministerium für Staatssicherheit die Tatortuntersuchung abgeschlossen hatte, erfolgten um 22:55 Uhr die Rückführung des Zuges aus dem „Grenzstreckenabschnitt“ und sechs Minuten später auch die Freigabe des Gleises 6.

Drei Tage später lag seitens der Deutschen Reichsbahn ein Gutachten zu den Schadenskosten vor. Beschädigt waren:


Bild: Kriminaltechnische Untersuchung im S-Bw Friedrichsfelde

Am nächsten Tag wurde der Zug im S-Bahnbetriebswerk Friedrichsfelde kriminaltechnisch untersucht.
Die Pfeile 1 und 2 zeigen auf Beschädigungen, die Pfeile 3 bis 5 auf Schussdefekte. (28.5.1983)
Weitere Bilder dazu finden Sie hier.

Die reinen Materialkosten beliefen sich auf 89,35 Mark, die Lohnkosten für Reparatur und Reinigung auf 169,34 Mark. Für die angenommene Dauer von vier Wochen für die Arbeitsunfähigkeit der Triebfahrzeugführerin berechnete man 1.018,75 Mark. Die Einnahmeverluste betrugen für den beschädigten Viertelzug 276 123/124 für 87 Stunden 3.045,00 Mark sowie die Zugausfälle im Bereich des Bahnhofes Friedrichstraße 13.731,20 Mark.

Ende 1983 wurde L. in die Strafvollzugsanstalt Rummelsburg überführt. Zur Dauer der verhängten und letztendlich verbüßten Haftstrafe können anhand der dem Autor vorgelegten Akten keine Angaben gemacht werden.

Nachtrag:
Nach einem Artikel der Berliner Zeitung wurde L. zu acht Jahren Haft verurteilt. 


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Autor:
Mike Straschewski

Danksagung:
Dank an die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR für die Freigabe der Bilder und Akten.

Quellen:
BStU, MfS, ZAIG, Nr. 3293
BStU, MfS, ZAIG, Nr. 16604
BStU, MfS, Sekr. Neiber, Nr. 984
BStU, MfS, AU, Nr. 4983/84, Band 1
[1] "Irrwitziger Plan: Erst eine S-Bahn entführen und dann in den Westen fahren"; Andreas Förster, Berliner Zeitung vom 26.01.2020

Bildnachweis:
BStU, MfS; ZAIG, Tagebuchnummer 14200 15Z
BStU, MfS, AU, Nr. 4983/84 TX Band 1

weiterführender Link:
Bildstrecke und Diskussion auf Drehscheibe Online - Historisches Forum

letzte Änderung:
24. Mai 2020

Veröffentlichung:
24. Mai 2020

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