Der Reichsbahnerstreik von 1980

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Dienstag, 23. September 1980

Presse und Politik
Auch heute sind die Geschehnisse vom Sonntagabend auf dem Bahnhof Zoologischer Garten sowie die Räumung des Stellwerkes Hal auf dem Bahnhof Halensee vom Vorabend noch das Berliner Hauptthema. Der Regierende Bürgermeister Stobbe erklärt nochmals, daß die Forderungen der Streikleitung an der „politischen Wirklichkeit Berlins“ vorbeigingen. Auch den Einsatz der Bahnpolizei bei den Räumungen diverser Bahngebäude nennt er rechtens. Zudem spricht er darüber, daß der Senat alle Eisenbahner, die einen neuen Arbeitgeber suchen, „gemäß unserer Rechtsordnung und unseren sozialen Verständnis“ behandeln werde. Die Berliner FDP läßt verlautbaren, daß die Integration der S-Bahn in das Westberliner Nahverkehrsnetz aus stadtplanerischen, verkehrs- und umweltpolitischen Gründen anzustreben sei.

Streik
Im Laufe des Tages werden von der Bahnpolizei alle besetzten Stellwerke und Güterbahnhöfe bis auf das Containerterminal des Hamburger und Lehrter Bahnhofes geräumt. In den beiden Bahnbetriebswerken bricht der Streik zusammen. Trotzdem kann die Reichsbahn keinen neuen S-Bahnverkehr auf die Füße stellen. Die Lage wird für die Ausständler immer schwieriger, das Streikkomitee erklärt daraufhin, daß der Ausstand weitergehen werde. Aufgrund der politischen Äußerungen fühlen sich die Streikenden verzweifelt und im Stich gelassen. Das Streikkomitee löst sich daraufhin auf. Auf einer am Abend im Containerterminal HuL erneut angesetzten Versammlung wird ein neues Streikkomitee gebildet. Währenddessen zieht vor dem Containerbahnhof ein Großaufgebot der Westberliner Polizei auf. Mehrfach erklärt ein hoher britischer Offizier einem Vertreter des Streikkomitees, daß die Besetzung rechtswidrig sei und es besser wäre, den Bahnhof zu räumen. Man befürchtete von Seiten der Alliierten einen gewaltsamen Übergriff durch die Bahnpolizei. Daß man mit dieser Vermutung gar nicht so daneben lag, zeigt sich in den Aufzeichnungen von Klaus Sämrow:

Nun ging es darum, das Zentrum der Arbeitsverweigerer auf dem Containerbahnhof HuL aufzulösen. In der Nacht, als die Stellwerke der Fernstrecken sich bereits wieder in der Hand der Deutschen Reichsbahn befanden, wurden die LdW (Leiter der Wachen - d. A.) zur Abteilung Bahnpolizei gerufen. Zu ungewöhnlicher Zeit passierten sie den Grenzbahnhof Friedrichstraße. In der Abteilung kam jeder Wachenleiter in ein anderes Zimmer. Jeder bekam Papier und Bleistift sowie einen Berliner Stadtplan. Jeder hatte den Auftrag, innerhalb einer Stunde Varianten zur Erstürmung des Containerbahnhofes durch die Bahnpolizei auszuarbeiten. Sernau z. B. erarbeitete eine Variante mit dem Aufrollen von der Heidestraße her. Gleichzeitig sollten vom Bahngelände her, von der Perleberger Brücke, andere Kräfte auf den Containerbahnhof vordringen. Nach einer Stunde, nun war es schon 04:00 Uhr früh, begann die Diskussion über alle Varianten. Sie wurde plötzlich abgebrochen ... [18]

Nach dem (einen Tag später ausgestrahlten) Bericht der Berliner Abendschau [19] sollen sich in der Umgebung des Containerbahnhofs an die 60 Bahnpolizisten versteckt gehalten haben, um wahrscheinlich die Gebäude zu erstürmen. Gegen 22 Uhr schließlich geben die Streikenden auf und verlassen in einem Demonstrationszug den Containerterminal. Auf ihren Schildern steht: „Der Streik geht weiter!“.

S-Bahn
Zur Bedienung des Grenzübergangs Friedrichstraße verkehren weiterhin jeweils zwei Umläufe zwischen Friedrichstraße und Charlottenburg sowie Gesundbrunnen und Anhalter Bahnhof.

Fernbahn
Der Personen-Transitverkehr läuft ohne größere Einschränkungen, der Güterverkehr liegt jedoch größtenteils brach. Zumindest ein Kohlenzug erreicht Westberlin. Auch der Postverkehr läuft nun wieder stabil.

Bild: Transitzug durch Bhf Wannsee

Ein Transitzug von Griebnitzsee kommend unterquert das Befehlsstellwerk Ws des Bahnhofes Wannsee
(Symbolbild, Aufnahme vom März 1981).

Mittwoch, 24. September 1980

Streik
Alle zuvor besetzten Bahnhöfe und Bahngebäude sind nun wieder unter Kontrolle der Deutschen Reichsbahn. Es kommt zu keinen weiteren Aktionen der Streikenden; der größte Teil von ihnen bleibt jedoch der Arbeit fern.

S-Bahn
Zur Bedienung des Grenzübergangs Friedrichstraße verkehren immer noch jeweils zwei Umläufe zwischen Friedrichstraße und Charlottenburg sowie Gesundbrunnen und Anhalter Bahnhof.

Fernbahn
Auch der Güterverkehr läuft nun - auch aufgrund von eingesetztem DDR-Personal - sporadisch wieder an.

Presse und Politik
Der Vorsitzende der GdED, Ernst Haar, empfiehlt allen Streikenden, den Ausstand zu beenden. Die GdED würde sich bereit erklären, Tarifverhandlungen mit Ostberlin aufzunehmen. Zudem werde er sich dafür einsetzen, das auch Reichsbahner in die GdED aufgenommen werden können. Während des Streikes war das jedoch nicht möglich! GdED und DGB erklären, das vom Streikkomitee keiner den Weg zu ihnen gesucht habe. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bietet dem Streikkomitee Räume in ihrer Zentrale als Streikbüro an. Daraufhin rüffelt der Dachverband DGB die GEW und verweist auf einen Beschluß. Die GEW erklärt, daß sie bei ihren Handlungen keine Rücksicht auf Stimmen aus Moskau und Ostberlin nehme.

Donnerstag, 25. September 1980

Streik
Das Streikkomitee sitzt nun im Haus der GEW in der Ahornstraße in Schöneberg. Am Abend findet eine letzte Streikversammlung in der Aula einer Schule mit rund 350 Teilnehmern statt. Das Streikkomitee empfiehlt allen, die sich noch im Ausstand befinden, die Reichsbahn zu verlassen und sich bei den Arbeitsämtern zu melden. Zudem wird empfohlen, sich in der GdED gewerkschaftlich zu organisieren. Der Streik ist zu Ende.

S-Bahn
Zur Bedienung des Grenzübergangs Friedrichstraße verkehren weiterhin jeweils zwei Umläufe zwischen Friedrichstraße und Charlottenburg sowie Gesundbrunnen und Anhalter Bahnhof.

Presse und Politik
Der Regierende Bürgermeister Stobbe muß sich vor dem Abgeordnetenhaus wegen der Haltung des Senats zum Streik rechtfertigen.

Freitag, 26. September 1980

S-Bahn
Zur Bedienung des Grenzübergangs Friedrichstraße verkehren weiterhin jeweils zwei Umläufe zwischen Friedrichstraße und Westkreuz sowie Gesundbrunnen und Anhalter Bahnhof.

Presse
Thema in allen Berliner Tageszeitungen ist das Ende des Streikes.

Sonnabend, 27. September 1980 - Informationsschreiben I des Streikkomitees

S-Bahn
Zur Bedienung des Grenzübergangs Friedrichstraße verkehren weiterhin jeweils zwei Umläufe zwischen Friedrichstraße und Westkreuz sowie Schönholz und Papestraße (Vorortbahn).

Presse und Politik
Das Spandauer Volksblatt vermeldet in seiner Ausgabe vom 27. September, daß sich etwa 250 Reichsbahner bei den Berliner Arbeitsämtern gemeldet hätten. Etwa 190 Eisenbahner werden zu dem für Verkehrsberufe zuständige Arbeitsamt II in Neukölln verwiesen. Der Senator für Arbeit und Soziales, Olaf Sund (SPD), erklärt im selben Artikel den Rechtsanspruch der Reichsbahner auf Arbeitslosengeld.

Sonntag, 28. September 1980

S-Bahn
Selbst wenn die S-Bahn wollte, sie brächte keinen Fahrplan wie vor dem Streik mehr zustande. Zu viele Triebfahrzeugführer, Meister und andere S-Bahner kündigten in den vorherigen Tagen. Somit verkehren ab 5 Uhr die Züge nach der nun gültigen Fahrplanänderung 32. Es werden nun nur noch die Strecken Frohnau—Lichtenrade (neu Zuggruppe NI, vorher im Nordteil Zuggruppe 1, im Südteil Zuggruppe 3), Heiligensee—Lichterfelde Süd (neu Zuggruppe NII, vorher Zuggruppe 2 (im Nordteil gekoppelt mit Zuggruppe 3) sowie Friedrichstraße—Wannsee (neu Zuggruppe SI, vorher Zuggruppe L [gekoppelt mit Zuggruppe H]) jeweils im 20-Minutentakt befahren. Auf allen anderen S-Bahnstrecken wird die Personenbeförderung nicht wieder aufgenommen. Eine Auflistung aller während der Streiktage gefahrenen Züge und befahrenen Strecken finden Sie hier.

Die nachfolgenden Grafiken verdeutlichen nochmals das Ausmaß des Westberliner S-Bahnnetzes vor und nach dem Zweiten Reichsbahnerstreik. Den letzten Fahrplan der Westberliner S-Bahn unter der Regie der Deutschen Reichsbahn finden Sie hier.

Bild: Streckennetz vor dem Streik 1980 Bild: Streckennetz nach dem Streik 1980
Streckennetz vor dem Streik Streckennetz nach dem Streik
Grafiken mit freundlicher Genehmigung entnommen von: Chronik der Zuggruppen der Berliner S-Bahn ab 1945.


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