Pfeifen, Kommandostab und ZAT
Die Entwicklung der Zugabfertigung bei der Berliner S-Bahn


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Mit der Einführung der elektrischen Züge ab dem 11. Juni 1928 auf der Stadtbahn bestand vorerst ein Mischverkehr mit dampfgeführten und den neuartigen Zügen. Man ergänzte das Abfertigungsverfahren nur geringfügig bzw. es bestanden zwei Varianten. Grundsätzlich gab der Aufsichtsbeamte, zu jenem Zeitpunkt waren auf den Stationen der Stadtbahn immer zwei Eisenbahner - je einer für eine Richtung - eingeteilt, mit dem Heben des Befehlsstabes bzw. der Laterne das Abfahrsignal. Bei den dampfgeführten Zügen, deren Türen noch mit Hand geschlossen wurden, sollten nun die Zugbegleiter und die auf den Bahnsteigen tätigen Türenschließer, das waren Eisenbahner, deren Aufgabe hauptsächlich darin bestand, die Türen vor der Abfahrt zu schließen, ihrer Tätigkeit nachkommen. Bei den elektrischen Zügen ging das Abfahrsignal direkt an den Triebwagenschaffner. Dieser übermittelte, am Seitenfenster stehend, den Abfahrauftrag an den Triebwagenführer, worauf dieser den Türverschluß betätigte und nach einer Sekunde seinen Zug in Bewegung setzte [9].

Da es wiederholt zu Vorkommnissen kam, wurde in einer Amtsblattverfügung vom 5. Oktober 1928 mitgeteilt, dass man gleichzeitig mit dem Erteilen des Abfahrauftrages den Ruf „Zurückbleiben“ ausrufen sollte:

Nr. 877. Warnung der Reisenden bei Abfertigung der elektrischen Züge

In letzter Zeit sind wiederholt Reisende, die im letzten Augenblick vor der Abfahrt einen elektrischen Zug bestiegen, dadurch verletzt worden, daß sie von den selbsttätig schließenden Schiebetüren eingeklemmt wurden. Um derartige Fälle nach Möglichkeit zu vermeiden, wird hiermit angeordnet, daß der Aufsichtsbeamte und die Türschließer bei Erteilung des Abfahrauftrages die Reisenden durch den Zuruf „Zurückbleiben“ warnen. Der Triebwagenschaffner hat den Abfahrauftrag an den Triebwagenführer durch den lauten Ruf „Abfahren“ weiterzugeben.
(31 B27/124 Bau vom 27.9.1928)
An die Bahnhöfe, Bahnbetriebswerke, Betriebs- und Maschinenämter.

Die neuen elektrischen Züge sowie das absehbare Ende der Dampfzüge auf der Stadtbahn scheinen manchen Eisenbahnern dazu zu verleiten, ihre Arbeit nicht mehr ordentlich zu machen.
Zitiert aus : Amtsblatt der Reichsbahndirektion Berlin; Heft 82 vom 5.10.1928

Mit Betriebsbeginn am 20. März 1929 fuhren auf den Vorortgleisen der Stadtbahn alle Züge elektrisch, die Dampftraktion war somit von den beiden nördlichen Gleisen im Regelfall verschwunden. Jetzt gab es nur noch eine Abfertigungsprozedur, die im August 1929 eine kleine Änderung erfuhr: Nun sollte bei gleichem Abfertigungsablauf der Triebwagenführer zwei Sekunden nach Erhalt des Abfahrauftrages warten, bevor er seinen Zug in Bewegung setzte. Nach einer Frist von acht Wochen sollten die Betriebsämter mitteilen, ob sich die neue Wartezeit bewährte [10]. Das geschah Ende November 1929, man behielt die Wartezeit von zwei Sekunden bei. Dazu die amtliche Begründung:

Auf die Einhaltung dieser Wartezeit muß großer Wert gelegt werden, weil Sie zur Befreiung von eingeklemmten Reisenden oder Abstellung von anderen Unregelmäßigkeiten Gelegenheit geben soll [11].

Und da die Reichsbahndirektion bei diesem betrieblichen Thema wegen entsprechender Vorfälle immer wieder - nicht nur bezogen auf die Stadtbahngleise - auf die Einhaltung des Abfertigungsverfahrens hinwies, führte sie weiter aus:

5. Nach dem Geben des Abfahrauftrags und bei der Anfahrt muß der Zug vom Aufsichtsbeamten, Türschließer und Triebwagenschaffner weiterhin beobachtet werden, um etwaige Unregelmäßigkeiten schnellstens erkennen und entweder das Anfahren des Zuges verhüten oder schnellstes Anhalten veranlassen zu können. Der Triebwagenschaffner muß dazu aus der Tür sehen.

6. Selbstverständlich muß der Aufsichtsbeamte sich auch vor dem Geben des Abfahrauftrags gehörig umsehen, um Unregelmäßigkeiten erkennen und sich mit dem Geben des Abfahrauftrags danach richten zu können [11].

Damit der Triebwagenschaffner den Zug bei der Abfahrt aus der ersten Tür beobachten konnte, ließen sich die beiden ersten Türen des führenden Viertelzuges über einen Lufthahn im Führerstand absperren. Diese Absperrhähne blieben bis zum endgültigen Außerbetriebnahme dieser Fahrzeuge im November 2003 funktionsfähig.

Bild: Abfertigung Pichelsberg

Ein S-Bahn-Leichtmetallzug der BR 165 - gebaut bei der WUMAG - im Bahnhof Pichelsberg.
Der Triebwagenschaffner wartet auf das Abfahrtsignal des Aufsichtsbeamten. Im Hintergrund wachsen einige Weinreben in guter Berglage (undatiert).

Ein Jahr später, im November 1930, schien es, dass sich alle Abfertigungsprobleme erledigt hätten. Und so schreibt das Amtsblatt der Reichsbahndirektion Berlin im schönsten Behördendeutsch:

Nachdem sich das Publikum im Laufe der Zeit an das Tempo der Abfertigung der elektrischen Züge sowie das sonstige Neue gegenüber dem Dampfbetrieb gewöhnt hat, soll nach und nach zur Vereinfachung der Zugabfertigung übergegangen werden. Mit Gültigkeit von Sonntag, den 30.d.M., ab treten deshalb bei der Abfertigung der Stadt=, Ring= und Vorortzüge folgende Änderungen ein:

a) Der mit Amtsbl.=Vfg. Nr. 877/28 angeordnete Ruf „Zurückbleiben“ fällt allgemein (…) weg. Der Ruf ist wie früher nur noch im Bedarfsfalle als Warnruf anzuwenden, wenn ein solcher nach Lage der Sache geboten erscheint.

b) Auf den Strecken, wo ausschließlich Wagen mit automatischen Türverschluß laufen, (…) hat der Twsch. den erhaltenen Abfahrauftrag nicht gleich durch den Zuruf „Abfahren“ weiterzugeben, sondern er hat auf den Abfahrauftrag hin den Twf. zunächst nur zur Betätigung des Türverschlusses zu veranlassen, was durch Klopfen an das Fenster des Führerabteils geschehen soll; darauf wartet er unter Beobachtung des Zuges die Auswirkung der Betätigung des Türverschlusses ab und veranlaßt erst dann, aber ohne zu zögern, in der bisherigen Weise den Twf. durch den Zuruf „Abfahren“ zum Ingangsetzen des Zuges, vorausgesetzt, daß er Unregelmäßigkeiten am Zuge nicht bemerkt hat. Werden solche bemerkt, so ist selbstverständlich mit dem Zuruf „Abfahren“ bis zur Beseitigung derselben zu warten. Der Befehlsstab bzw. die grün geblendete sind Laterne sind für gewöhnlich solange hoch zu halten, bis der Zug anfährt. (…) [12]

Spätestens im Verlauf des Zweiten Weltkrieges führte die Reichsbahn den ständigen Ruf „Zurückbleiben“ wieder ein.

Im Grundsätzlichen verblieb dieses Abfertigungsverfahren bis zur vollständigen Einführung des Einmannbetriebes im Jahre 1969 gültig. Aufgrund von Änderungen der später in der DDR gültigen Arbeitsschutzanordnung 351/1 wurden in den nachfolgenden Jahren nur einzelne Textpassagen konkretisiert.

Im Januar 1931 startete die Reichsbahndirektion (Rbd) einen Versuch, bei dem sich beim Verkehren von Halbzügen die Triebwagenschaffner auf 33 S-Bahnhöfen selbst abfertigten [13]. Dieser Versuch muß erfolgreich gewesen sein, denn bis Ende März 1931 kamen 29 weitere Bahnhöfe hinzu [14]. Inwieweit diese Abfertigungsvariante über die nachfolgenden Jahre hinweg fortgesetzt wurde, kann derzeit nicht nachvollzogen werden.

Die Abfertigung wird moderner

Im Januar 1948 errichtete die Reichsbahn im kriegszerstörten Berlin auf mehreren Bahnhöfen Signalkästen, die dem Zugpersonal mittels Lichtsignal(en?) die Abfahraufträge übermittelten. Wie viele S-Bahnhöfe damit ausgerüstet worden und wie diese Anlagen ausgestattet waren, kann derzeit nicht beantwortet werden. Ein Schreiben vom Dezember 1948 weist auf den bevorstehenden Abbau hin, da diese Signalkästen nicht den Bestimmungen des Signalbuches entsprachen. Grund für diese vorübergehende Maßnahme war wohl ein Mangel an beleuchteten Befehlsstäben, denn das Schreiben führt aus, das von diesen bis Ende des Jahres 1.500 Stück ausgeliefert werden können. [15]

Die Lichtabfertigung führte man im Jahre 1951 wieder ein. Der oberirdische S-Bahnsteig des Bahnhofes Friedrichstraße war spätestens seit der Eröffnung der Nordsüd-S-Bahn mit einer der stärksten frequentierten Stationen im S-Bahnnetz. Auf Empfehlung des damaligen Betriebskontrolleurs (und späteren S-Bahnchef) Friedrich Kittlaus sollte schon Anfang der 1940er Jahre ein erhöhter Aufsichtsraum für eine verbesserte Übersicht während des Abfertigungsvorganges sorgen. Durch die Umstände des Zweiten Weltkrieges kam es jedoch nicht mehr dazu, erst 1949 griff man diese Idee wieder auf. Ab Oktober 1950 errichtete die Reichsbahn einen zweistöckigen, sechs Meter hohen Turm, aus dessen Glaskanzel die Aufsicht den Überblick während der Abfertigung behielt. Der Turm ging am 18. Februar 1951 in Betrieb, das Abfahrsignal wurde nun mittels eines grünen Lichtes an den Zugankündern (heute Fahrtzielanzeigern) an den Triebwagenschaffner übermittelt [16].

Bild: Abfertigungsturm Friedrichstraße Außenansicht

Ansicht des Abfertigungsturmes vom Januar 1951 mit seinen beiden Zugankündern. Seitlich diesen Ankündern befinden sich die Abfertigungssignale.
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-19000-3186 / CC-BY-SA 3.0

Dazu schreibt [17]:

Zur Erteilung des Abfahrauftrages muß das Signal Zp 9 am Turm selbst nach jeder Gleisseite angebracht werden, so daß eine einwandfreie Signalgebung und Sicht gewährleistet ist.

Die Bedienung des am Gebäude angebrachten Signals wird durch den Aufsichtsbeamten elektrisch betätigt.

Wir bitten daher, da es sich um ein einmaliges Bauwerk für die S-Bahn-Zugabfertigung handelt, die Anbringung des Signals Zp 9 versuchsweise zu genehmigen, um Erfahrungen über die Zweckmäßigkeit in Verbindung mit dem erhöhten Stand des Aufsichtsbeamten zu gewinnen.

Die Ausführung es Signals Zp 9 ist so gedacht, daß in Richtung des Triebwagenpersonals beim Bedienen durch den Aufsichtsbeamten grünes Licht als Abfahrauftrag sichtbar wird und nach rückwärts weißes Licht erscheint.

Bild: Abfertigungsturm Friedrichstraße Innenansicht

Innenansicht vom Mai 1951. Aus der offiziellen Bildbeschreibung:
Die Inneneinrichtung des Aufsichtsturmes ist übersichtlich und zweckentsprechend. Richtungsanzeiger, Lautsprecheranlage und Abfahrauftrag werden für jede Bahnsteigseite getrennt bedient, dadurch ist die Arbeit der Aufsicht unkompliziert und fehlerfrei möglich.

Mit dem Umbau des Bahnhofes Alexanderplatz erhielten beide S-Bahnsteige 1964 mit den neugeschaffenen Aufsichtsgebäuden ebenfalls diese Abfertigung mit einem grünen Licht; und schafften es somit auch als Bildbeispiel in das ab 1. Oktober 1971 gültige Signalbuch der Deutschen Reichsbahn.

Bild: Abfertigungslicht Alexanderplatz

Im Oktober 1960 startete die Reichsbahn am stadtauswärts führenden eingleisigen Bahnsteig B des S-Bahnhofes Bornholmer Straße einen ersten Versuch mit dem „industriellen Fernsehen“, später benannte man diese Anlagen in Fernbeobachtungsanlagen (FBA) um. Eine Kamera nördlich des Bahnsteiges in Höhe des Stellwerks Bos übertrug den Reisendenwechsel an die Aufsicht des Bahnsteiges A. Diese gab bei Beendigung des Ein- und Aussteigens und Erreichen der Abfahrzeit ein grünes Licht. Der Triebwagenschaffner fertigte daraufhin den Zug wie sonst auch ab. Aus diesem vierwöchigen Versuch ergab sich u.a. die Erkenntnis, dass die Züge schneller abgefertigt werden konnten.

Am 4. Oktober 1965 ging auf dem S-Bahnhof Grünbergallee die erste planmäßige FBA in Betrieb; die Triebwagenführer erhielten ihren Abfahrauftrag (Zp 9 als grünes Licht) vom ca. 1,5 Kilometer entfernten Bahnhof Altglienicke [18]. Dieses „industrielle Fernsehen“ breitete sich immer mehr aus: 1974 fertigte man an zwölf Bahnsteigen die Züge aus der Ferne ab, im Jahre 2003 waren es 48 Bahnhöfe mit 88 Bahnsteigkanten [19].

Bild: Mast industrielles Fernsehen Bornholmer Straße.

Noch im Winter 1981 ragte neben dem mit dem Mauerbau stillgelegten Stellwerk Bos noch der Holzmast empor, der einst die Kamera trug.

Eine einschneidende Änderung des Abfertigungsverfahrens ergab sich mit der Einführung des Einmannbetriebes. Am 25. Februar 1965 fuhr nach knapp zweijähriger Vorbereitung der erste Vollzug ohne einen Triebwagenschaffner zwischen Erkner und Friedrichstraße. Hierzu setzte die Reichsbahn nur Viertelzüge ein, die nachträglich mit einer Sicherheitsfahrschaltung und Funkanlage ausgerüstet worden waren. Die Aufträge zum Schließen der Türen sowie zum Abfahren erteilte die Bahnhofsaufsicht über UKW-Funk direkt an den Triebwagenführer. Sukzessive wurden die Zuggruppen umgestellt, in Westberlin begann man damit am 1. November 1967. Am 1. November 1968 war die Umstellung in Ostberlin, am 1. Oktober 1969 in Westberlin beendet.

Bild: Warnhinweis Fahrplanheft Oktober 1972

Hinweis zum Abfertigungsvorgang; entnommen Winterfahrplanheft 1972/73, gültig ab 1.10.1972.

Schon im Sommer 1967 zeigte sich am S-Bahnhof Ostkreuz, dass aufgrund von sich überschneidenden Funkaufträgen es häufig zu Problemen bei der Abfertigung kam. „Schuld“ daran waren nicht nur die Funksprüche für die bis zu vierzehn Zuggruppen, die die Station anfuhren, sondern zeitweise auch Funk-Überreichweiten der benachbarten Stationen Warschauer Straße, Nöldnerplatz, Treptower Park und Rummelsburg. Wahrscheinlich im Herbst 1969 [20] errichtete die Reichsbahn neben dem bekannten Zp 9 neu den Türschließauftrag. Dieser konnte anfangs unabhängig von der Signalstellung bedient werden. Ein waagerechter weißer Lichtstreifen beauftragte jetzt den Triebwagenführer, die Türen zu schließen. Auch das Abfahrsignal erhielt eine neue Darstellung: Ein senkrechter grüner Lichtstreifen - angelehnt an den Befehlsstab - schickte nun die Züge auf die Reise. Vier Jahre später mit der Neuausgabe des Signalbuches zum 1. Oktober 1971 führte die Reichsbahn (nicht nur) diese Signale DDR-weit ein.

Bild: Zp 8 neu Bf Ostkreuz Bild: Zp 9 neu Bf Ostkreuz
Das Sv-Signal 245 stand am nördlichen Ende des Bahnsteiges F des Bahnhofes Ostkreuz.

Pünktlich vor dem 20. Jahrestag der DDR konnte die Deutsche Reichsbahn vermelden, dass ihr betriebenes Netz auf den Einmannbetrieb umgerüstet war. Lediglich die seit 1948 mit einem Zweiwagenzug betriebene Westberliner Stummelstrecke von Zehlendorf nach Düppel verblieb bis zum Reichsbahnerstreik 1980 mit zwei Personalen besetzt. Der eine führte den Zug, der andere kümmerte sich neben den Fahrgeldeinnahmen weiterhin um die Abfertigung - außer (zeitweise) in Zehlendorf.


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