Unser drittes Fernsehprogramm


Das erste oder zweite Fernsehprogramm wird von diesem gelobt, von jenem kritisiert; was uns betrifft, so finden wir es mal so, mal so - hauptsächlich allerdings so. Doch lassen wir uns deshalb keine grauen Haare wachsen; denn wir sind nicht auf das erste oder zweite Programm angewiesen, seit wir herausgefunden haben, daß in Berlin-Bohnsdorf, unmittelbar an der Grünbergallee, seit geraumer Zeit ein drittes Fernsehprogramm produziert wird. Den technisch denkbar besten Empfang (der übrigens völlig gebührenfrei ist) hat man auf dem S-Bahnhof Altglienicke, gelegen an der Strecke Berlin-Adlershof - Zentralflughafen Schönefeld. Das dritte Programm beginnt in aller Herrgottsfrühe und wird den ganzen Tag über ohne Sendepause bis in die Nacht hinein ausgestrahlt.

Der Empfang ist allerdings nur bei wärmerem Wetter möglich, denn wenn es kühl wird, macht der Aufsichtsbeamte auf dem Bahnhof Altglienicke die Tür seines Häuschens zu, und dann kann man das dritte Programm nicht mehr sehen. Denn der Fernsehapparat steht auf seinem Diensttisch und zeigt ihm außergewöhnlich störungsfrei den Bahnsteig Grünbergallee und rechts davon das Gleis, auf dem die S-Bahn-Züge nach Schönefeld fahren.

Der Mann in Altglienicke kann also genau sehen, wie der Zug einfährt, anhält und wann alle Leute aus- und eingestiegen sind. Das ist sehr nützlich; denn auf dem Bahnhof Grünbergallee gibt es keinen Aufsichtsbeamten. Dessen Arbeit erledigt der Kollege in Altglienicke noch nebenbei; er erteilt auch dort per Sprechfunk den Zügen ihren Abfahrtsbefehl. Und wie gesagt, wenn seine Tür offensteht, werden auch wir televisionäre Zeugen der Grünberg-Szene. Da kommt ein Mann mit einem Kinderwagen, welcher aber keine Kinder enthält, sondern nur zwei große Gallonen, in denen Obstwein oder vielleicht Karbolineum-Ersatz auf und nieder schwappt. Und jetzt - man sehe sich das an! - springt noch einer auf den schon angefahrenen Zug, weil er sonst mangels Glatteises keine andere Möglichkeit sieht, sich ein Bein zu brechen. Und so gibt es viele dramatische Miniaturen, mitten aus dem alltäglichen Leben gegriffen.

Bild: FBA Aufsicht

Natürlich ist es immer mehr oder weniger das gleiche, was einem da geboten wird, es sind Szenenfolgen ohne sonderlich kunstvolle Dramaturgie. Insofern wird man gelegentlich (gelegentlich!) an das erste oder zweite Fernsehprogramm erinnert. Aber die Darbietungen haben doch einen unschätzbaren Vorteil: Man kann ihnen seine Aufmerksamkeit widmen, wann immer man will, und wenn man Lust hat, kann man, ohne Wesentliches zu versäumen, einfach weggehen. Es käme mir nie in den Sinn, den Aufsichtsbeamten in Altglienicke zu fragen, wie die Sache denn eigentlich angefangen habe, oder auf dem Heimweg (da wir noch nie bis zum Schluß geblieben sind) darüber nachzusinnen, wie die Geschichte denn nun ausgegangen sei, wer der Täter war oder ob sie sich endlich doch noch gekriegt haben. Und wenn einer den Zug verpaßt hat, so wird er gewiß den nächsten nehmen, weil die S-Bahn einigermaßen zuverlässig ist.

So beschreibt der Berliner Satiriker Lothar Kusche im Jahre 1973 seine Sicht auf den S-Bahnhof. Beruhigend: Schon damals war das Fernsehprogramm kein Hort der ständigen Freude.


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Der zitierte Text wurde entnommen aus:
Der gerissene Film; Eulenspiegel Verlag, Berlin; 1975 (1973)
Die Textfreigabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Schriftstellers Lothar Kusche (†2016).

letzte Änderung:
3. Juli 2012

Veröffentlichung:
25. Januar 2009

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